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© Tessa Träger

Mehr als nur reine Musik

ol I vespri siciliani gibt es in zwei Fassungen: auf Französisch und Italienisch. An der Wiener Staatsoper spielen wir die – spätere – italienische. Wie sehen Ihre Erfahrungen mit dieser bzw. mit beiden Versionen aus?

cr Das ist eine interessante Frage. Es ist ähnlich wie bei Don Carlo, da gibt es auch eine französische und eine italienische Fassung, wobei sich diese deutlich stärker unterscheiden als im Falle von Vespri. Also: Ich wuchs mit I vespri siciliani auf Italienisch auf. Als ich die Oper zum ersten Mal dirigierte, war es die italienische Version. Später leitete ich sie auch auf Französisch, und nun kehre ich wieder zurück zur italienischen Fassung. Die Musik ist dieselbe. Das Stück ist dasselbe. Aber es ist klar zu erkennen, dass I vespri siciliani von Verdi auf Französisch gedacht war – die Uraufführung fand ja in Paris statt. Im Besonderen erkennt man das bei den Rezitativen. Denn im Französischen liegt die Betonung sehr oft auf der letzten Silbe, im Italienischen hingegen häufig auf der vorletzten. Und das macht einen musikalischen Unterschied! Wenn eine Passage auf Französisch gedacht wurde, kann man sie zwar auch auf Italienisch singen, aber die musikalische und sprachliche Betonung wird nicht ganz übereinstimmen. Als ich Vespri zum ersten Mal auf Italienisch machte und über diese nicht immer ganz perfekt passenden Betonungen stolperte, dachte ich mir: Seltsam, warum hat Verdi das so gemacht? Nun weiß ich es: Die Antwort liegt auf der Hand.

ol Welche Bedeutung haben Rezitative bei Verdi? Dienen Sie nur dem Vorantreiben der Handlung?

cr Verdi bedeutet nicht nur eine schöne Arie oder eine packende Cabaletta. Die Spannung bei Verdi liegt im Rezitativ beziehungsweise in der Scena. Dabei handelt es sich nicht nur um Anhängsel oder um musikalische Elemente, die dafür da sind, die Zeit zu füllen oder eine nachfolgende Arie vorzubereiten, sondern es geht im Rezitativ um eine Reflexion der Figuren, um Entwicklungen. Man darf das auf keinen Fall vernachlässigen!

ol Verdi schrieb Vespri direkt nach der trilogia popolare, also nach den drei berühmten Opern La traviata, Il trovatore und Rigoletto. Sind Einflüsse dieser drei Opern entscheidend? Oder ist Vespri für Verdi ganz etwas Neues, weil es sich um eine Grand opéra handelt und er sich an entsprechende Konventionen halten musste?

cr Natürlich gab es Konventionen. Aber Verdi verändert sie, etwa im Falle des ungewöhnlichen Finales: Warum ungewöhnlich? Weil es enorm kurz ist, ganz anders als damals üblich. Das Ganze wirkt fast wie ein Gebäude, das in sich zusammenstürzt. Ich denke, dass Verdi dieses knappe Ende wählte, um die Brutalität der Handlung darzustellen: Die Revolution bricht aus, die Sizilianer fallen über die Franzosen her und es gibt ein Blutvergießen. Man erlebt hier einen Verdi nach der trilogia popolare. Wobei wir natürlich nicht vergessen dürfen, dass er auch schon in diesen drei Opern immer wieder experimentierte.

ol Und was ist dramaturgisch gesehen gänzlich »Verdi-typisch« an Vespri?

cr Wir finden unter anderem seine Hauptmotive: Freiheit sowie die komplexen Beziehungen zwischen Vater und Kind. Wir kennen das aus vielen anderen Opern, Vater und Tochter, Sohn und Vater: etwa bei La traviata und RigolettoSimon Boccanegra und Don Carlo. Das war offensichtlich etwas, das er immer wieder aufs Neue untersuchen wollte. Mir gefällt in Vespri siciliani auch, wie sich die Dinge, Blickwinkel und Situationen ändern. Denken Sie nur an Monforte und Arrigo: Gegner, dann aber auch Verbundene. Sie schwanken auch in ihren Haltungen, wechseln Positionen. Wie im echten Leben: keine simple Schwarzweißzeichnung, sondern vielschichtig. Und genauso verhält es sich mit Verdis Musik, auch sie ist nicht nur schwarz- weiß, sondern unendlich farbig. Für mich ist Verdi jener Komponist, der auf vollendete Weise die Dramaturgie des Dramas in die Musik schrieb und Musik nicht nur als reine Musik sah. Alles, wirklich alles, das in der Partitur steht, dient der Handlungsdramaturgie, keine einzige Note ist Selbstzweck. Das ist bei Vespri ganz besonders stark ausgeprägt, insofern war diese Oper ein großer Schritt vorwärts.

ol Und findet sich noch ein Rest von Belcanto in Vespri? Oder ist das Kapitel beendet?

cr Frage: Was ist Belcanto? Antwort: Das, was die Worte bedeuten: Schöner Gesang. Denken Sie sich eine Melodielinie, etwa im 1. Akt die Arie von Elena: das ist Belcanto. »O tu, Palermo« von Procida: Belcanto. Ebenso bei Arien von Arrigo und Monforte. Natürlich handelt es sich um einen anderen Belcanto als bei Vincenzo Bellini oder Gaetano Donizetti, aber es ist nicht so, dass Verdi bei Vespri plötzlich eine Axt genommen und begonnen hätte, alles umzuschlagen, er verwendete weiterhin bestehende musikalische Formen. Aber bei Verdi ist – wie vorhin gesagt – die Musik stark mit dem verbunden, das die Figur ausdrücken will. Es geht also um mehr als nur schönen Gesang, um mehr als eine schöne Melodie, es geht um Ausdruck und Wahrheit. Und dann gelingt es ihm, auch noch eine schöne Melodie dazu zu finden. (lacht) 

ol Sie meinten vorhin, dass es in Vespri nicht nur Schwarzweiß gibt, dass es um vielschichtige Menschenschicksale geht. Was aber ist Vespri? Ein Familiendrama in einem historischen Rahmen? Ein politisches Werk auf Basis einer Familienkonstellation?

cr Ich kann das auf keine Waage legen und sagen: Soundsoviel Familie und soundsoviel Politik. Aber wenn man eines der Elemente – Familie oder Politik – aus dem Werk herauslösen würde: es wäre nicht mehr Vespri. Denn die beiden Dinge sind ganz eng verzahnt, wie Arrigo und Monforte bezeugen. Wir haben einen Vater und einen Sohn, die politisch weit auseinander liegen und doch verbunden sind. Stellen Sie sich vor, es gäbe in dem Stück keine Politik: dann würde die konfliktbeladene Geschichte von Arrigo und Monforte nicht funktionieren. Und wären sie nicht Vater und Sohn: wie wären sie dann verbunden? Aber dass sie verwandt sind und aus unterschiedlichen Lagern kommen: das macht die Handlung so herzzerreißend.

ol Ist Monforte eine Art Philipp II. aus Don Carlo? Ein einsamer Herrscher?

cr Philipp sitzt in der Falle. Er kann nichts machen. Monforte aber gibt seinem Herzen nach, für mich macht das einen Charakter aus, den man mögen kann. Auch wenn ich mir sicher bin, dass er als Soldat und Gouverneur eine schreckliche Person war.

ol Und Procida? Wie ist er einzuschätzen?

cr Wenn wir einen als den Bösen betrachten wollen, dann ist es Procida. Im Sinne eines berechnenden Politikers: Er will ein Ziel erreichen und das ohne Wenn und Aber, jedes Mittel ist ihm recht. Er sieht nur dieses Ziel. So gesehen ist er der Härteste im Stück, was die Entscheidungen und Handlungen betrifft.

ol Oftmals wird die Instrumentation von Vespri siciliani als besonders kunstvoll gerühmt. Was macht das Besondere aus?

cr Um das zu beantworten reicht ein Blick auf die Ouvertüre: Da ist ein Reichtum in puncto Instrumentation, den es zuvor nicht gegeben hat. Unglaublich! Ebenso der Einsatz des Chores. Wir haben in Vespri gleich zwei Chöre: die Sizilianer und die Franzosen. Die Sizilianer wiederum teilen sich in Frauen und Männer – und diese Gruppen singen nicht immer dasselbe. Das macht die Sache sehr komplex und unterscheidet sich deutlich von den Chören in Il trovatore, Rigoletto und La traviata. Abgesehen davon ist Vespri auch harmonisch komplexer. Für das damalige Publikum, das eine gewohnte Verdi-Oper erwartet hat, muss das alles sehr neu geklungen haben.

ol Warum aber wird international Vespri weniger gespielt als so manche andere Verdi-Oper?

cr Sie kostet viel mehr! Vergleichen Sie zum Beispiel allein die Chorgrößen in Rigoletto und in I vespri siciliani. Letztere ist, wie vorhin ausgeführt, viel umfangreicher. Dazu kommt: Vespri ist eine deutlich längere Oper als manch andere. Und man hat gleich vier Hauptdarsteller. Unterm Strich gibt es ausreichend viele gute Opern von Verdi, die einfacher umgesetzt werden können. Das bedeutet aber nicht, dass Vespri schlechter oder musikalisch weniger attraktiv wäre. Nur eben schwieriger. Einen ähnlichen Fall haben wir bei Giacomo Puccini. Der Trittico – also die drei Opern Il tabarro, Suor Angelica und Gianni Schicchi – wird deutlich seltener gespielt als etliche seiner anderen Werke. Aber es ist ein fantastischer Dreiteiler. Nur... komplizierter umzusetzen. Und das schlägt sich in den Aufführungszahlen nieder.

ol Es gibt musikalischen Farben, die Verdi bewusst einsetzte: Welche Farbe, also welche »tinta« hat I vespri siciliani für Sie?

cr Das ist eine sehr interessante Frage! Wählte ich eine Farbe, dann wäre sie zumindest nicht sehr hell. Auch in Hinblick auf die Liebe in dieser Oper. Denn die Liebe zwischen Arrigo und Elena entspringt nicht nur dem reinen Gefühl. Sie sind einander auch verbunden, weil sie gemeinsam kämpfen. Wenn Sie im Vergleich an La traviata denken: Dieses bewegende »Amami, Alfredo« der Violetta, dieser enorme Ausbruch an Liebe: den werden sie in Vespri nicht finden. Das ist eine ganz andere Sache...

ol I vespri siciliani gilt als eine besonders schwierige Oper für Sängerinnen und Sänger. Worin liegen die Herausforderungen für den Dirigenten?

cr Es gibt große Ensembles, die muss man im Griff haben. Die andere wichtige Sache: Verdi einfach nur stur nach dem Metronom zu spielen ist einfach. Aber es ist sehr schwierig, ihn mit entsprechender Freiheit zu interpretieren. Bei Puccini gibt es in jedem Takt genaue Anweisungen: Accelerando, Rallentando, Fermate und so weiter. Alles ist niedergeschrieben. Alles! Bei Verdi: Viel, viel weniger! Das bedeutet aber nicht, dass man all das nicht machen sollte. Eine Arie in nur einem Tempo zu spielen wäre dumm und langweilig – und es wäre nicht Verdi. Die Herausforderung für einen Dirigenten ist, eine Phrase so zu formen, dass eine Sängerin oder ein Sänger alle Freiheit für den vokalen Ausdruck erhält. Und der Dirigent dabei aber nicht den Faden verliert!