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© Clemens Fabry
»Ich würde ja beinhart behaupten, dass Spitzenkunst immer die Ausnahme ist. Sonst wäre sie nicht die Spitze.«

Ein Aspirin gegen Nivellierung

Es gibt eine wiederkehrende Klage in der Kunstwelt, die sich über eine sukzessive Nivellierung in ihren Disziplinen beschwert. Stimmt der Befund? Werden wir immer gleicher, immer flacher, immer mehr Mainstream? Oder ist das nur eine typische O tempora, o mores-Leier, wie sie seit der Antike gepflogen wird? Florian Boesch, Musiker, Charismatiker und Denker, stellt sich dieser Frage.

ol Man hört so oft, dass früher alles außergewöhnlicher, mutiger, persönlicher war. Also, dass wir uns auf hohem Niveau immer mehr auf einen akzeptierten, ungefährlichen, stabilen Das-darf-man-Zustand einengen. Ist das so?

fb Ein spannendes Thema! Ich versuche einen ganz persönlichen Zugang: Vor einigen Tagen war ich hier in der Staatsoper in der Turandot, da erlebt man in einer großen Repertoire-Oper die Spitzen der Musikwelt: Asmik Grigorian ist einzigartig und schafft es, auf ihrem Gebiet ihre Disziplin zu transformieren und zu erweitern. Jonas Kaufmann ist ebenso einzigartig, ein Tenor, der das deutsche, italienische und französische Fach über so lange Zeit dominiert und auch noch ein wirklich relevanter Liedsänger ist: das hatten wir so noch nie. Und der Regisseur Claus Guth ist ein Weltmeister, der eine grandiose Produktion geschaffen hat. Und das alles findet innerhalb des berühmten Opernzirkus statt, in dem die Künstlerinnen und Künstler dauernd von A nach B reisen und laufend unterwegs sind. Wo bleibt da eine Nivellierung?

ol Sicherlich nicht in besonderen Häusern wie der Wiener Staatsoper. Aber vielleicht gibt es an anderen Orten mitunter eine Tendenz der allgemeinen Gleichmachung? Das Außerordentliche wäre dann die Ausnahme. Eine Momentaufnahme, die blendet.

fb Ich würde ja beinhart behaupten, dass Spitzenkunst immer die Ausnahme ist. Sonst wäre sie nicht die Spitze. Und die gibt es zu jeder Zeit. Wir alle suchen diese Ausnahmen; wir versuchen, diejenigen zu finden, die spektakulär, herausragend, eben besonders sind. Aber geht es uns jetzt um jene, die besondere Künstlerinnen und Künstler sind, oder um jene, die besonders sind im Beherrschen einer Fertigkeit?

ol Um beide.

fb Ganz allgemein gibt es keinen gigantischen Künstler, keine phänomenale Künstlerin ohne eine  außerordentliche Beherrschung des Handwerks. Umgekehrt geht das schon: Es existieren unendlich viele großartige Handwerkerinnen und Handwerker, die dennoch keine Kunst machen. Wenn das Nur-Handwerkliche Kunst würde: dann wäre das eine gewisse Nivellierung. Aber mir fällt noch eine weitere Kategorie ein, die heute für viel Verwirrung sorgt: die Meisterschaft in Likes auf den sozialen Plattformen. Also: Wie beliebt ist man in dieser Medienwelt? Das kann schon, ganz brutal gesagt, zu einer Nivellierung führen, nämlich dann, wenn Institutionen anfangen, den Likes entsprechend zu casten. Nicht die Staatsoper. Aber andernorts.

ol Warum eine Nivellierung? Warum ist »beliebt« keine gültige Kategorie?

fb Weil es nun einmal a priori die Aufgabe von Kunst und Kultur ist, etwas vorzulegen und nicht, sich danach zu richten, was die anderen wollen. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage muss schon in der Erziehung und Ausbildung beginnen, im Sinne von: Woran orientieren wir uns? Was ist Erfolg, und was ist er in der Social-Media-Welt? Und was bedeutet das für mich? Denn wenn jemand dort viele Likes hat, denken sich andere: So muss ich mein Leben auch leben! Die Wirkmächtigkeit dieser Werkzeuge ist enorm. Und sie ist brutal und gefährlich, weil sie unter einer Camouflage daherkommt.

ol Wie aber wird man zu einer oben genannten Ausnahme? Denkt sich ein Florian Boesch: Ich suche mir etwas Besonderes und kultiviere das? Oder macht er einfach, was er macht – und hofft, dass das Persönliche dann ausreichend überzeugend und tragfähig ist?

fb Diese Frage ist gut. Aber es funktioniert in Wirklichkeit nur, wenn das Bemühen nicht einzig darin besteht, sich abheben zu wollen. Wie schreibt Rüdiger Safranski zum Thema Schopenhauer? »Man sollte das Selbst geschehen lassen. Selbstgeschehenlassen und nicht Selbstaneignung ist das Geheimnis des Schöpferischen.« Sobald eine oder einer eine Besonderheit oder Ausnahmestellung forciert, ist das bereits Selbstaneignung. Man muss es einfach geschehen lassen. Denn das Besondere, Individuelle, das hat jeder Mensch ohnedies in sich. Das Herausragende eine*r Künstler*in besteht nun darin, dem Gehör zu schenken und zu folgen, es zu entwickeln und den Mut aufzubringen, es zu präsentieren im Sinne von: »Das ist es, das ich zu sagen habe!« Goethe lässt Torquato Tasso sprechen: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.« Das ist es! Dass man, wenn man auf sein Menschsein und die Humanität gestoßen wird, nicht verstummt, sondern etwas damit macht und es bekennt: im Theater, in der Oper, im Konzertsaal. Und dieses Bekenntnis ist das Persönliche, Nicht-Nivellierte, Individuelle. Und genau das ist es, das uns als Zuschauer interessiert.

ol In alten Aufnahmen erlebt man immer wieder Künstler*innen, die technisch nicht ganz lupenrein, aber umso persönlicher spielen und singen. Vielleicht ist der Drill in Richtung Perfektion Gift für die Kunst? Vielleicht war Karajan, bei all seiner künstlerischen Größe, zu perfekt? Hat das womöglich – natürlich nicht bei ihm, aber seinen schwächeren Nachahmern – zu einer Nivellierung geführt?

fb Wir sind ungefähr gleichaltrig und Sie sind auch in Wien in den 1970er Jahren aufgewachsen. Wir erinnern uns: Die Stadt war damals total grau. Aber: Es entwickelte sich eine Subkultur. Eine Gegenreaktion. Und so ist es ja immer, in allem. Umso stärker ein Zustand, desto klarer entsteht ein Gegenpol. Und aus genau solch einer Gegenreaktion entwickelte sich ein Künstler namens Nikolaus Harnoncourt, der nicht ertragen konnte, wie viele mit Musik umgingen. Und der dem eine Wahrhaftigkeit und Wahrheit entgegensetzte. Was nun das technisch Perfekte anbelangt: Man muss heute einfach härter, genauer, besser arbeiten als früher. Arbeiten, arbeiten, üben, üben! Das ist vielleicht manchmal nervig, doch je besser man technisch ist, desto freier ist man auch: Man muss weniger über das Wie nachdenken und kann sich mehr dem Inhaltlichen widmen.

ol Doch wenn man 8000mal dieselbe Passage übt, geht da nicht irgendwann das kreative Feuer aus?

fb Ohne Arbeit geht es nicht, weil unser Beruf einfach zu schwer ist und weil die Entwicklung zu einem Standard geführt hat, den wir nicht mehr herunterschrauben können. Aber ich glaube nicht, dass etwas durch ein »Zuviel« verloren gehen könnte. Nehmen Sie den Pianisten Víkingur Ólafsson, der ein Jahr lang nichts anderes spielt als Bachs Goldberg-Variationen. Er schenkt sich dieses Jahr und will ganz bewusst einen Tunnel, will einen unabgelenkten Blick auf nur ein Werk. Das er sicherlich nicht wenig übt. Und: Sein Bach ist eine Offenbarung, ich habe seit Guldas Bach-Interpretationen nichts Vergleichbares gehört. Gleichzeitig ist Ólafsson bei Liederabenden unglaublich spontan: Wenn ich zum Beispiel während einer Aufführung eine Phrase anders anlege, ändert er sein Klavierspiel augenblicklich und antwortet mir musikalisch sofort. Eine intensive Konzentration auf einen Aspekt führt also nicht automatisch zu einer Nivellierung.

ol Um noch einmal zurückzublicken: Es gab eine Zeit vor den berühmten »Fächern« und Schubladen. Eine Sängerin, ein Sänger konnte nach Herzenslust Rollen ausprobieren. Eine Maria Jeritza musste sich weniger einen Kopf machen, was jetzt ihr spezielles Fach ist.

fb Eine Maria Jeritza hatte für die Entwicklung ihrer Karriere Jahrzehnte Zeit. Heute möchte man, dass eine Rosenkavalier-Sophie maximal 24 Jahre alt ist, weil sie in der Oper 15 ist. Ein solches Denken schränkt vieles ein… Ich bin da eher für eine Offenheit: Wer weiß, was Asmik Grigorian noch alles singen wird. Wir wissen nur: Es wird grandios sein!

ol Betrifft diese Offenheit auch die Werke an sich? Richard Strauss hat Mozarts Idomeneo stark bearbeitet und 1931 in Wien aufgeführt. Heute würde man solche Adaptierungen sehr naserümpfend betrachten.

fb Ich finde es interessant, wenn man sich manchem Werk auf mehreren Arten nähern kann: Historisch unglaublich präzise und genau im Kontext der Entstehungszeit, oder aber sehr frei, mit Umstellungen, Bearbeitungen, vielleicht sogar als Pasticcio. Die Nivellierung bestünde hier in der Falle, die Diversität nicht ausreichend zu feiern und zu fördern. Ein Nebeneinander von Dingen, die sich auch widersprechen können, macht es aus! Wir brauchen ein Spannungsfeld, in dem ein kultureller Diskurs stattfindet und in dem sich ein junger Mensch entscheiden kann: interessiert mich dieses oder jenes?

ol Sie waren ein Nikolaus-Harnoncourt-Künstler: Würde er das auch so sehen? Gab es da nicht eine gewisse historische Strenge?

fb Das ist ein Irrtum! Das Grandiose an ihm war, dass er eine mächtige Meinung und Idee einer Sache hatte. Dann wurde geprobt und im Konzert bekam man von ihm einen Blick, der lautete: So, jetzt du! Mit anderen Worten: Er hat nicht das exerziert, was geplant und studiert wurde, sondern er hat einfach gemeinsam mit uns Musik gemacht. Mit aller Freiheit! Und er wäre nicht der Musiker gewesen, der er war, wenn er nicht so offen gewesen wäre. Ich erzähle Ihnen dazu eine Geschichte: Vor einigen Jahren traf ich seine Frau, die wunderbare Alice Harnoncourt, und gestand ihr, dass ich mit Ólafsson einen nicht kitschigen, aber sehr romantischen Bach aufführen möchte, mit einem modernen Klavier. Also keine historisch informierte Aufführung. Und sie antwortete ganz selbstverständlich: »Bach hochromantisch? Aber natürlich!«

ol Fazit?

fb Wir brauchen eine umfassende Bildung, damit sich Kunst nicht einem oberflächlichen Gesellschaftsgehabe unterwirft. Wenn wir zu faul dafür sind und sagen: Es gibt doch eh Instagram, uns einer pseudo- und nicht profunden Oberflächenabbildung der Gesellschaft und des Individuums verschreiben – dann sind wir selbst schuld und das finde ich unerträglich. Daher finde ich, dass alle Studierenden – und Lehrenden! – an den Kunstuniversitäten verpflichtend auch kulturphilosophische Vorlesungen absolvieren sollen. Das hat für mich mit der Aufgabe der Künstler*innen in der Gesellschaft zu tun. Ich sage das ganz hochtrabend: Wir haben für die Gesellschaft die Frage zu erörtern: Wer sind wir? Dieses Wer sind wir? produziert einen Wertekatalog, der wiederum von der Gesellschaft auf die Politik übertragen werden muss. Die Politik soll dann verhandeln, wie wir miteinander leben. Sie selbst aber hat keine Werte zu etablieren. Auch die Philosophie nicht. Die wirkliche Frage des Wer sind wir und was resultiert daraus? ist die Aufgabe der Kunst. Genau dafür sind wir da! Und dann brauchen wir uns auch keine Sorgen um allfällige
Nivellierungen machen.

Exklusiv für Mitglieder des Offiziellen Freundeskreises der Wiener Staatsoper: Am 13. Jänner 2024 findet im Rahmen von Dialog am Löwensofa um 14.30 Uhr eine weiterführende Diskussion zu diesem Thema statt.

Gäste: Rudolf Buchbinder, Nikolaus Habjan, Florian Boesch
→ wiener-staatsoper.at/foerdern