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© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Michael Volle als Michele & Anja Kampe als Giorgetta
© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Szenenbild, Wiener Staatsoper 2023
© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Anja Kampe als Giorgetta

Dieser Moment

»War das der Moment?« So lautet der zentrale Satz in der Performance Kanon der Gruppe She She Pop. Darin geht es um eindrucksvolle Momente aus Performance-, Tanz- und Theaterstücken, die von den Performer*innen oder auch von Personen aus dem Publikum beschrieben werden. Aus der Erinnerungserzählung heraus und mit eigenen, sehr limitierten Mitteln versucht die Gruppe dann, die beschriebenen Momente nachzustellen, oder besser: neu entstehen zu lassen. In dem Stück, das zwischen 2019 und 2022 durch Deutschland tourte, wurden unter anderem Szenen von Christoph Schlingensief und Johan Simons, Choreographien von Pina Bausch und Georges Balanchine beschrieben. Waren alle erzählten Bestandteile nachgestellt und zusammengebaut, kam das Gezeigte auf den Prüfstand: »War das der Moment?«

Der Moment, der auf einer leeren Bühne auf Grundlage einer Erzählung geschaffen wird, kann nicht derselbe sein, den die sich erinnernde Person erlebt hat. Er kann nicht einmal – oder schon gar nicht? – die Erinnerung abbilden, die sich im Verlauf der Zeit immer weiter verselbstständigt und verändert. Wenn die Befragten, sich Erinnernden dann irgendwann auf die mit immer größerer Dramatik, in zunehmender Lautstärke gestellte Frage – meist selbst schon schreiend –
antworten: »Ja! Das war der Moment!« –
sagen sie dann die Wahrheit? Oder beugen sie sich dem Druck der Performancesituation und -gemeinschaft, die den glückenden Moment einfordert?

Wahrscheinlich trifft beides zu. Das Besondere und Großartige an Kanon ist, dass der Abend einerseits individuelle Erinnerung vergemeinschaftet. Zum anderen entsteht aber aus der Erinnerung und ihrer Verarbeitung auf der Bühne ein ganz neuer Theatermoment – einer, der im Augenblick entsteht und den alle, die zuschauen, gemeinsam erleben. »Dieser Moment«: Er ist es, ohne Zweifel. Und dass die Frage viel mehr ist, als sie scheint, ist in sich eine große, nachwirkende Theatererkenntnis. Es ist eine Frage, die wir ins Repertoiretheater mitnehmen können: In die Rezeption von Werken, die wir kennen, schätzen, schon häufig gesehen haben – und deren unterschiedliche Interpretationen uns herausfordern, überraschen, verärgern und begeistern können.

In Giacomo Puccinis Tabarro, dem ersten Teil seines Trittico, folgt ein unangenehmer auf einen romantischen Moment: Luigi und Giorgetta tanzen zu den Klängen der verstimmten Drehorgel, als Giorgettas Ehemann Michele auftaucht. »Ragazzi, c’è il padrone!« – die Warnung des Arbeiters Talpa kommt etwas zu spät, es folgt eine Situation des Ertappens und Ertappt-Werdens. Der Drehorgelklang reißt ab, eine ruhige Sequenz in der Musik illustriert Giorgettas (scheiternden) Versuch, die Situation zu entschärfen.

Auf der Bühne von Henrik Ahr leuchten groß dimensionierte Worte und Wortfragmente: SCHWER GLÜCK LICH SEIN. Wie der Satz zerrissen ist, aus dem sie stammen –
»Wie schwer es ist, glücklich zu sein«, wird Giorgetta später sinnieren –, so zerreißen auch die glücklichen Momente im Tabarro, und so muss auch Giorgettas Verhältnis zu Michele als zerrissen beschrieben werden. Entsprechend zerfällt die Konversation der beiden zwischen Versuchen von Annäherung und brüsker Abweisung in Stücke. In der Dialogszene, die Puccini und seine Librettisten zwischen die Tanzszene und den Auftritt von Talpas Frau Frugola gebaut haben, besteht das Meisterstück in der Parallelführung zweier Szenen (»Controscene« werden diese Szenen, die abseits der Haupthandlung eingeflochten werden, genannt). Im Hintergrund ist der Liedverkäufer zu hören, der das neueste Lied anpreist. Im Vordergrund wird die Konversation zwischen Giorgetta und Michele zunehmend angespannter – während sie seine Schroffheit anspricht, blockt er ab. Am Kulminationspunkt gibt der Liedverkäufer preis, was er feilbietet: La storia di Mimì, die Geschichte von Mimì aus La bohème, also eine Geschichte mit tödlichem Ausgang, die das beschwingt vorgetragene musikalische Motiv konterkariert, während Giorgetta verzweifelt ausstößt, sie würde manchmal lieber
geschlagen werden, als Micheles dumpfes Schweigen aushalten zu müssen.

In den szenischen Anweisungen zum Tabarro ist eine vordere Spielebene ausge­wiesen, die das Deck des Lastkahnsdarstellt,
sowie eine hintere, der Kai, auf dem die Nebenszenen gespielt werden. Die abstrakte Tabarro-Bühne von Henrik Ahr nimmt diese Zweiteilung auf und differenziert die zweite Spielebene noch einmal. Jenseits der Leuchtbuchstaben ist eine Gaze gespannt, etwas weiter hinten eine weitere –
so entsteht ein Korridor mit zwei Spiel­ebenen, die es der Regisseurin erlauben, die Szenen, die dort spielen, zwischen Realismus und Surrealismus, zwischen konkreter Szene und (alb-)traumhaftem Kommentar oszillieren zu lassen.

In der angesprochenen Szene sind Giorgetta und Michele einen Augenblick lang allein. Auf ihre Bemerkung über die Abendstimmung bekommt Giorgetta keine Antwort; das Gespräch über Frugola, die im Hintergrund (hinter der ersten Gaze) auftaucht, und der Versuch der direkten Ansprache (»Che hai? Che guardi?«) werden abgeblockt. Im Spiel, das Tatjana Gürbaca inszeniert hat, entzieht sich Michele aktiv: Er holt eine hölzerne Spielzeuglokomotive aus der Tasche und beginnt, daran herumzuschnitzen. Die Inszenierung verwendet die mittlere Spielfläche nun für eine Referenz: Ein Michele-Double taucht dort auf und mit ihm ein Kind, das mit einer Holzlokomotive zu spielen beginnt – gleich jener, an der Michele im Vordergrund arbeitet. Michele, so könnte man interpretieren, zieht sich nicht nur auf sein Schweigen und seine unausgesprochenen Verdächtigungen zurück, sondern phantasiert sich womöglich in die glückliche Zeit, in der das gemeinsame Kind noch am Leben war. Die Spielzeuglokomotive könnte ein Geschenk sein, das er dem Kind gerne gemacht hätte. Besonders eindringlich wird die Szene durch unterschiedliche und sich überlagernde Grade an Realismus: Die reale Frugola, auf die Giorgetta explizit hinweist, stößt mit dem imaginierten Michele und seinem Kind zusammen; eine Frau, die sich später als Midinette herausstellen wird, wird von einer als Teufel maskierten Figur mit einer Champagnerflasche gelockt, aus der glänzender Flitter fließt.

Im Vordergrund kann Giorgetta die Situation immer schwerer ertragen. Wie sich die Anspannung ausdrückt, die aus Unglück, Schuldgefühl und Unsicherheit zugleich herrührt, ist eine Regieentscheidung; Tatjana Gürbaca lässt ihre Giorgetta (in der aktuellen Serie Elena Stikhina) aktiv werden. »Manchmal wäre es mir lieber, wenn du mich grün und blau schlägst«, ruft sie verzweifelt aus – und schlägt selbst auf den abgewandten Michele ein, um sich am Ende weinend an seinen Rücken zu lehnen. Damit ist ein Motiv aus der Inszenierung der Ouvertüre aufgenommen, in der Giorgetta im stummen Spiel ebenfalls mehrmals nachdrücklich und erfolglos versucht, eine körperliche Verbindung zu Michele aufzubauen. Michele hält Giorgetta, die an seinen Rücken gelehnt schluchzt, ein Taschentuch hin, ohne sie anzusehen: Er öffnet sich ihr nicht im Mindesten. Im Hintergrund kommt der Liedverkäufer ins Bild, und der Anteil des Lichtdesigns von Stefan Bollinger an der szenischen Gestaltung wird besonders deutlich. Über der Szene zwischen Giorgetta und Michele liegt ein schonungslos helles, weißes Licht, während der Liedverkäufer und seine Kundinnen, die Midinetten, hinter der Gaze in rosa Schummrigkeit getaucht sind. Die Midinetten hat Silke Willrett im Stil von Showgirls ausstaffiert, und auch der Liedverkäufer trägt einen glitzernden Kragen am Mantel und verkauft metallisch glänzende Herzluftballons. Um an diese verführerische Ware zu kommen, brauchen die Midinetten Unterstützung: Sie winken Männer mit Geldbündeln heran, die die Luftballons bezahlen und dann mit den Mädchen abgehen. Die tragische Geschichte von Mimì, in der Armut eine bedeutende Rolle spielt, wird hier mit der materiellen Dimension von Geschlechterverhältnissen gegengeschnitten. In diesem Tabarro ziehen im Hintergrund – hinter der zweiten Gaze – immer wieder Gestalten durch das Bild, die an die Omnipräsenz der Arbeit im Leben von Giorgetta und Michele erinnern. Der Auftritt der Midinetten und ihrer »Kavaliere« könnte zusätzlich darauf verweisen, dass es für Giorgetta jenseits ihrer unglücklichen Ehe ebenfalls kaum Überlebenschancen gibt. Nachdem der Liedverkäufer ein weiteres Mal das tragische Schicksal Mimìs zum Besten gegeben hat, erklärt Giorgetta unvermittelt, wie glücklich sie sich in Paris fühle. In Tatjana Gürbacas Inszenierung ist diese irritierende Aussage als Verzweiflungsschrei übersteigert. Giorgetta verwendet das Taschentuch, das ihr Michele gegeben hat, als Accessoire für einen kleinen »Quando siamo a Parigi«-Tanz, um es abschließend zusammenzuknüllen und dem abgehenden Michele hinterherzuwerfen. Die schrittweise Steigerung von Giorgettas Verzweiflung ist sehr körperlich inszeniert und entlädt sich fast zwangsläufig an dieser Stelle. Dadurch verstärkt sich der folgende Moment: Giorgetta hat alles gegeben, nun ist sie erschöpft und steht einen Moment wie verloren, ehe Frugola endgültig die Szene betritt und übernimmt. Tatjana Gürbaca inszeniert auch diesen Moment sehr musikalisch: In »Quando siamo a Parigi« kulminiert die musikalische Spannung. Das anschließende »Perchè?!« auf Micheles ruhige Anmerkung, es verstehe sich, dass Giorgetta hier glücklich sei, wird hingeschleudert wie das Taschentuch. Diese Steigerung verlangt nach einer Ruhe- und Erschöpfungspause. Die Regisseurin schafft sie durch einen minimal früheren Abgang Micheles, der ansonsten noch Frugola begrüßen müsste. So steht Giorgetta einen Augenblick allein. Erschöpft und verloren lauscht sie dem unheimlichen Echo des Liedes der Mimì, ehe sie sich wieder fasst und mit Frugola ins Gespräch kommt.

Die reduzierte Bühne von Henrik Ahr schafft besonders viel Raum für die darstellerische Entfaltung, auf die Tatjana Gürbaca Wert legt. Szenisch unterstützt durch Kostüm und Licht, lässt sich die Wahrnehmung des Bühnenraums aber auch besonders stark verändern und den Anforderungen der jeweiligen Szene entsprechend transformieren. Giorgetta steht im Tabarro einen Moment lang völlig schutzlos vor den neonleuchtenden Trümmern ihres Glücks, ehe Frugola auftritt und mit einer Ladung Glitter den Raum für sich in Anspruch nimmt. Beides ist »dieser Moment«.