Mit Verdi aufgewachsen
Giampaolo Bisanti zählt zu den bedeutendsten italienischen Dirigenten der Gegenwart. Neben seiner Tätigkeit als Chefdirigent der königlichen Oper Wallonie-Liège in Belgien ist er praktisch rund um den Globus auf den wichtigsten Bühnen zu Hause. Seit seinem fulminanten Debüt mit Macbeth im Jahr 2018 ist er auch an der Wiener
Staatsoper regelmäßig zu erleben und wird nun gegen Saisonende noch zwei Werke seines Leibkomponisten Giuseppe Verdi dirigieren: Otello im Mai und Nabucco im Juni.
Schon im Vorfeld gab der Vielbeschäftigte das nachfolgende Interview.
Verdis Spätwerk Otello und sein Frühwerk Nabucco könnten unterschiedlicher nicht sein. Wo sehen Sie dennoch Gemeinsamkeiten? Was hat sich bei Verdi in seinem schöpferischen Selbstverständnis sein Leben lang nie geändert?
Zwischen Nabucco, Verdis dritter Oper und Otello, seiner vorletzten Oper gibt es, wie Sie richtig sagen, enorme Unterschiede. Unterschiede in der musikalischen Sprache, im Stil, in der Orchestrierung, in der Verwendung bestimmter Harmonien... Wir sprechen hier genau genommen von »Universen«, die verschiedener nicht sein könnten. Die verbindende Gemeinsamkeit dieser beiden Meisterwerke ist jedoch Verdis unfassbares Theatertalent. Dieses zeigt sich in der Bedeutung, die die Dramaturgie der jeweiligen Oper für ihn hatte und nicht zuletzt in der Bedeutung des gesungenen Wortes, das für ihn in beiden Werken (und grundsätzlich in all seinen Opern) an erster Stelle in seinem kompositorischen Denken stand.
»Ich bin buchstäblich mit Verdi aufgewachsen, seit meiner
frühesten Kindheit habe ich seine Musik gehört... egal,
ob es sich beispielsweise um Traviata oder Aida oder
Don Carlo handelt... die Melodien der unterschiedlichen Opern
waren immer in meinem Herzen und meinem Geist präsent.«
Wenn Sie unerwartet auf einer unbewohnten Insel landen würden, welche der Verdi-Partituren könnten Sie aus dem Kopf rekonstruieren?
Alle Opern, die ich bereits dirigiert habe, vor allem aber Macbeth. (lacht)
Wie oft haben Sie als Dirigent noch ein Aha-Erlebnis in Bezug auf eines der Werke von Verdi?
Jedes Mal, wenn ich mir eines seiner Werke anhöre. Ich bin buchstäblich mit Verdi aufgewachsen, seit meiner frühesten Kindheit habe ich seine Musik gehört... egal, ob es sich beispielsweise um Traviata oder Aida oder Don Carlo handelt... die Melodien der unterschiedlichen Opern waren immer in meinem Herzen und meinem Geist präsent.
Wenn Sie Ihre fünf Verdi-Highlights aus seinem Gesamtoeuvre nennen müssten, was wäre Ihre Antwort?
Sein großartiges Requiem steht sicherlich für mich an erster Stelle... dann folgen La traviata, Don Carlo, Otello und Falstaff.
Das Staatsopernorchester wie das Publikum sind gleichermaßen von Ihren Dirigaten begeistert. Was macht einen guten Verdi-Dirigenten aus? Wie würden Ihrer Meinung nach die wichtigsten Grundregeln für einen Verdi-Dirigenten lauten?
Dieses Lob ist eine Ehre für mich und ich möchte es gerne zurückgeben: Ich liebe dieses Orchester, den Chor, überhaupt alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses wunderbaren Theaters! Ob man allerdings die Frage, was einen guten Verdi- Dirigenten ausmacht, so einfach beantworten kann, weiß ich nicht. Ich glaube nicht. Dirigenten und Dirigentinnen, die sich der Oper verschreiben, sollten einige grundsätzliche Eigenschaften mitbringen, unabhängig vom Repertoire: Erstens ist eine äußerst exakte Vorbereitung unerlässlich – man kann nicht auf die Partitur schauen, wenn man dem Geschehen auf der Bühne folgen muss. Zweitens ist eine klare, einfache und »trockene« Zeichengebung empfehlenswert, damit sich alle im Orchestergraben und auf der Bühne entspannt und ohne Missverständnisse »geführt« fühlen. Drittens muss den Sängerinnen und Sängern ein gewisser Freiraum gelassen werden, damit sie sich selbst bestmöglich ausdrücken. Der Dirigent, die Dirigentin hat also alle auf der Bühne zu unterstützen, ihre besten Qualitäten zur Geltung zu bringen und ohne dass dabei aber die Intentionen des Komponisten auf der Strecke bleiben. Das ist ein Balanceakt, den man mit zunehmender Erfahrung und jeder neuen Produktion immer weiter »verfeinert«.
Was hat Verdi von Rossini, Bellini und Donizetti gelernt?
Verdi fußt sehr intensiv auf dem italienischen Belcanto, insbesondere auf Donizetti. Die Stilsprache aller Produktionen Verdis, bis hin zur Trilogia popolare, also Traviata, Rigoletto, Trovatore, basiert eindeutig auf den italienischen Werken der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Achtsamkeit gegenüber der Gesangslinie, die Vorliebe für Variationen und für eine »geläufige Gurgel«, die formale Unterteilung der Szenen in Rezitativ- Arie-Cabaletta usw. sind unmittelbar von Rossini, Bellini und Donizetti übernommen. Vor allem von Letzterem lernte er außerdem, durch die Verwendung besonderer Harmonien und spezieller musikalischer Finessen »Atmosphären« zu schaffen.
»Der Dirigent, die Dirigentin
hat alle auf der Bühne
zu unterstützen, ihre besten
Qualitäten zur Geltung zu
bringen, ohne dass dabei die
Intentionen des Komponisten
auf der Strecke bleiben.«
Was hat Puccini, gewissermaßen sein natürlicher Nachfolger auf dem italienischen Komponistenthron, von Verdi gelernt?
Jenes besondere Gespür – zweifelsohne die eigentliche Essenz des Musiktheaters –, Musik als Ausdrucksmittel für Situationen, Gefühle, Handlungen, kurz: für alles einsetzen zu können, was gerade auf der Bühne geschieht. Aber niemals nur als akustische Bebilderung, sondern immer im Hinblick auf den dramatischen Gesamtzusammenhang.
Hätten Sie, wenn Sie ihn treffen könnten, noch eine Frage an Verdi – vor allem in Bezug auf die Interpretation seiner Werke?
Nein, keine Frage! Das würde ich mir nie erlauben! Ich würde einfach sagen: Danke, Maestro!
Wie sieht Ihre musikalische Vorbereitung am Tag einer Vorstellung aus?
Die Vorbereitung findet Monate vor einem Auftritt statt. Das befriedigendste Gefühl bei meiner Arbeit ist die Gewissheit, jede einzelne Note, die man aufführen muss, ganz klar im Kopf zu haben. Ich sage jungen Dirigenten und Dirigentinnen immer: Das Geheimnis, um das Lampenfieber zu überwinden, besteht darin, die Musik, die man aufführen muss, perfekt studiert zu haben!