Auf dem Surfbrett durchs Paradies
Was macht ein Sänger in den Abendstunden, wenn er einmal keine Vorstellung, keine Probe hat und ihn dennoch eine unstillbare Sehnsucht nach Musik ergreift? Ich persönlich liebe in solchen Situationen das musenhaft inspirierende Eintauchen in den Kosmos einzelner Komponisten, allen voran eines Verdi, Bach, Bruckner, Beethoven oder Wagner. Am besten am Klavier. Hier packt mich dann die unbändige Lust, von Passage zu Passage zu springen, mir diese oder jene Stelle aus dem Klavierauszug »herauszuklopfen«, Details und Zusammenhängen nachzugehen und durchaus auch – mich selbst begleitend – einzelne Abschnitte meiner Partien zu singen. Mitunter hat Letzteres den praktischen Vorteil, dass ich auf diese Weise eine Art musikalische Hygiene betreibe und fallweise eingeschlichene Ungenauigkeiten bereinige, den Blick auf den Notentext schärfe und manches Vergessene wieder ins Bewusstsein zurückhole. Oder neue Erkenntnisse gewinne. Jedenfalls besitzen diese – im besten Sinne des Wortes einsamen – Abende einen gewissen paradiesischen Anstrich. Zugleich stelle ich mir in solchen Stunden gelegentlich selbst die berühmte Inselfrage, insbesondere in Bezug auf das Wagner-Œuvre: Könnte ich mich, vor die Wahl gestellt, für den einen Klavierauszug entscheiden, den ich mit mir nehmen dürfte? Vermutlich wäre es Tristan und Isolde. Erstens aufgrund des hier zu findenden unerschöpflichen Reichtums an Harmonien, die eine Welt widerspiegeln, die doch so fern von unserer Realität ist. Und zweitens, weil der Tristan-Klavierauszug nicht ganz so dick ist wie beispielsweise jener der Meistersinger und sich besser im Rucksack verstauen lässt. Oder würde ich doch eher den Parsifal einpacken, mit dessen Gurnemanz ich mich derzeit von allen Wagner-Opern am eindeutigsten identifizieren kann? Zumindest besäße ich sehr gerne die Spiritualität und Weisheit dieser Figur. Andererseits möchte ich auch auf den Pogner in den Meistersingern nicht verzichten. Insbesondere nicht auf eine meiner Lieblingsszenen in dieser Oper – jene im zweiten Aufzug, in der Pogner mit seiner Tochter Eva dieses kleine, sehr persönliche Duett anstimmt, das in der wundervollen Phrase »Will einer Seltnes wagen« gipfelt. Da lässt eine Bühnenfigur tief in eine von ehrlichen Zweifeln verunsicherte Vaterseele blicken, die jede zuvor in der Öffentlichkeit zur Schau gestellte Gönnerhaftigkeit und jeden großspurigen Idealismus abgelegt hat. Aber auch das Bedrohliche, Dunkel-drängende in Hundings »Wunder und wilde Märe« aus der Walküre, diesen eigenartig energetischen Moment, möchte ich nicht missen. Es muss aber gar kein Ausschnitt aus einer meiner Rollen sein. Manchmal ertappe ich mich beim Wunschgedanken, nur einen Tag lang einer anderen Stimmlage anzugehören, um eine dieser wunderbar ekstatischen Höhepunkte singen zu dürfen, mit der uns Wagner beschenkt hat: Den Liebestod im Tristan, die Waltrautenerzählung oder Brünnhildes Schlussgesang in der Götterdämmerung, Walthers Preislied in den Meistersingern. Ganz zu schweigen von den rein orchestralen Stellen wie dem Schluss der Götterdämmerung, die mich fast neidvoll an die Dirigenten und Orchestermusiker denken lässt, die sich hier schwelgerisch verausgaben dürfen. Einen Hauch dieser Ekstase finde ich dann doch wieder bei Gurnemanz im dritten Aufzug, wenn er Parsifals Segnung vollzieht, oder beim gemeinsamen Wach-auf-Chor auf der Meistersinger-Festwiese, wo Chor, Orchester und Solisten eine Art Hymnus anstimmen, die mir jedes Mal Gänsehaut beschert.
»Wagner war bekanntlich doch recht angetan vom Bellini’schen Belcanto und somit haben alle recht, die betonen, dass auch der Wagnergesang von der italienischen Gesangstechnik her kommen müsste.«
In einer Zeit, in der neben vielem anderen auch die Zusammensetzung des Publikums im Wandel begriffen ist und zahllose Opern-Neulinge ihre Schwellenangst überwinden, um sich vorsichtig der Welt des Musiktheaters zu nähern, werden einem Sänger regelmäßig ganz elementare Fragen gestellt. So zum Beispiel: »Wie würdest du Wagners Musik und seine Bedeutung in ein, zwei Sätzen zusammenfassen?« Ich fand ganz spontan zu einer Beschreibung, die ich auch nach späterem, wiederholten Nachdenken nach wie vor unterschreiben würde. Und diese lautet: »Wagner ist die beste und packendste Filmmusik aller Zeiten, die allein durch akustische Mittel den besten Film im Kopf des Zuhörenden zu produzieren vermag.« Schließlich hat Wagner ja nicht nur die Musik und die Oper, sondern sogar die weit nach seinem Tod sich etablierende Medienlandschaft nachhaltig mitgeprägt.
Eine weitere, wiederholt gestellte Frage junger Operninteressierter an mich betrifft den Wagner-Gesang an sich und dessen grundsätzlichen Erfordernisse und Besonderheiten. Und hier überrasche ich vielleicht den einen oder anderen – zumindest im ersten Moment –, wenn ich mit einem geradezu kalenderspruchartigen Motto antworte, den ich tatsächlich gerne in jeden Wagner’schen Klavierauszug auf die erste Seite schreiben würde: »Liebe den Text!« Es bedarf nämlich einer richtiggehend leidenschaftlichen Hingabe an die Sprache als Klangkosmos, aus dem die Konsonanten wie Skulpturen herausgeformt werden sollten. Wagner war bekanntlich doch recht angetan vom Bellini’schen Belcanto und somit haben alle recht, die betonen, dass auch der Wagnergesang von der italienischen Gesangstechnik her kommen müsste. Man denke beispielsweise in meinem Fach nur an die überaus schönen, kantablen Linien des Landgrafen Hermann im zweiten Akt des Tannhäuser im Verein mit seiner Nichte Elisabeth knapp vor dem Sängerwettstreit. Das, was aber die deutsche Sprache von der italienischen klar unterscheidet, ist eben die größere Bedeutung der Konsonanten. Es wäre allerdings grundfalsch, diese als Hindernisse der großen Linie, des Atemflusses, des Stimmlegatos zu verstehen. Mir fällt in diesem Zusammenhang ein schöner Vergleich ein: Man stelle sich eine große, schöne Meeresbucht mit vielen Felsen vor, in der man surfen möchte. Nun verstehe ich besagte Felsen nicht als gefährliche Stolpersteine, an denen man zerschellen kann, sondern als Möglichkeit, sich geschmeidig mit neuer Energie aufzuladen und abzustoßen, um auf der nächsten Welle weiterzusurfen. Die Konsonantengestaltung passiert also im Fluss des Atems und bekommt nicht zuletzt durch die bei Wagner oft zu findenden Stabreime eine ganz eigene Qualität. Vorausgesetzt, man beherrscht den Text auch wirklich. Oder hat ihn während der Vorstellung zumindest in greifbarer Nähe, wie ich 2013 bei meinem ersten, ungeplanten König Marke in einer Tristan und Isolde-Produktion an der Deutschen Oper Berlin. Es ging um ein doppeltes Einspringen an einem Wochenende. Ein erkrankter Kollege war ursprünglich am Samstag für den König Heinrich im Lohengrin und zusätzlich am Sonntag für den König Marke gebucht. Zunächst bekam ich die Anfrage, den König Heinrich zu übernehmen, was mit keinerlei Problemen verbunden zu sein schien. Kaum hatte ich aber bestätigt, kam sofort die Bitte, auch gleich den Marke dazu zu nehmen. Immerhin hatte ich den zweiten Aufzug in einer konzertanten Aufführung schon einmal gesungen. Den dritten jedoch bis dahin noch nie. Da dieser für den Marke aber nicht allzu umfangreich ist (wenn auch mit einigen unangenehmen Synkopen gespickt), sagte ich nach kurzem Zögern und voller Abenteuerlust zu, obwohl mir nur knapp zwei Tage fürs Einstudieren blieben. Mein Glück war der in dieser Inszenierung vorgesehene Gehstock des schon betagten Marke, dessen Rückseite ich mit dem Text und rhythmischen Gedankenstützen regelrecht vollpflasterte. Ich habe den Auftritt geschafft, bin aber die ganze Zeit, in der ich auf der Bühne war, an meinem Gehstock gehangen, wie ein stark Sehbehinderter. Gerade dieser Aspekt schien aber eine besondere Wirkung gehabt zu haben, denn zwei Tage später las man in einer Kritik: »Noch nie hat man hier einen so innigen und ergreifenden König Marke erlebt, speziell im dritten Aufzug.«
Horizonterweiternd für meine Interpretationen sind aber nicht nur solche intensiven Überraschungen, meine eigene Regietätigkeit, die mir eine zusätzliche Pers-pektive auf die Werke ermöglicht oder die oben beschriebenen, fast meditativen Stunden am Klavier, sondern auch das gezielte Erkunden jener geographischen Landschaften, die in irgendeinem Zusammenhang mit den aufzuführenden Werken stehen. Sei es, weil sich die Eindrücke einer konkreten Umgebung auf irgendeine Weise in den Werken widerspiegeln, die ebendort komponiert wurden, sei es, weil gewisse Gegenden eine Stimmung, ein Aussehen vermitteln, die bestimmten Opernhandlungen zu entsprechen scheinen. Das von mir heißgeliebte und oft erwanderte Katharerland in Südfrankreich beispielsweise, insbesondere der Montségur, atmet in seiner karg-mystischen Anmutung exakt die Atmosphäre des ersten und dritten Parsifal-Aufzugs, also die der Gralsburg-Umgebung. Und wer mit dem Rad in den Dolomiten zu den Drei Zinnen, am Lago di Misurina vorbei, hinauffährt, dem könnte beim Anblick der dort zu sehenden atemberaubenden Gesteinstürme durchaus der zweite Walküren-Akt oder das zweite und vierte Bild im Rheingold einfallen – diese von Wagner als »Wildes Felsengebirge« bzw. »Freie Gegend auf Bergeshöhen« titulierte Szenerie. Ganz zu schweigen von der Weißgerbergasse in Nürnberg, deren Fachwerkhäuser den Besucher unmittelbar in die Zeit der Meistersinger zurückversetzen.
Aus all dem hier Geschilderten, diesen mannigfaltigen Gedanken, Eindrücken, Fragen, Erfahrungen auf Basis der aufzuführenden Meisterwerke, darf ich schlussendlich schöpfen, wenn ich die Bühne betrete und dem Publikum gegenüberstehe. Immer in der Hoffnung, etwas von diesem Reichtum, der mich selbst beglückt, weitergeben zu können.