Werther in acht Worten

Saison 2024/2025 |

Kate Lindsey & Matthew Polenzani erkunden Massenets Opernklassiker und die stürmische Gefühlswelt Goethes Kultfigur.

250 Jahre ist es her, dass Goethe seinen Kultroman Die Leiden des jungen Werthers schrieb. Im Zentrum des Buches steht der schwärmerische Werther, der sich in Lotte verliebt. Doch ist diese schon vergeben: Am Totenbett ihrer Mutter versprach sie, den gefühlskalten Albert zu heiraten. Sie bleibt treu, auch wenn ihr Herz etwas anderes rät, sein Werben endet tragisch.

Dass eine solche Sturm-und-Drang-Handlung zur Entstehungszeit geradezu für Furore sorgen musste ist klar – traf Goethe doch präzise den literarischen Geschmack seiner Epoche. So soll später etwa Napoleon das Buch immer mit sich getragen haben, die Jugend anno 1775 kleidete sich gerne der Titelfigur entsprechend, Bearbeitung folgte auf Bearbeitung. Die bekannteste musikalische Fassung des Romans – Jules Massenets Oper Werther – wurde übrigens 1892 an der Wiener Hofoper mit großem Erfolg uraufgeführt. Und steht nun wieder am Spielplan.

Anhand von acht Schlagworten tauchen die Sänger der beiden Hauptpartien – Kate Lindsey und Matthew Polenzani – in die Liebes- und Gedankenwelt der Protagonisten ein.

»Verantwortung«

Kate Lindsey Verantwortung ist ein Imperativ im Leben Charlottes. Sie ist etwas, das sie nicht infrage stellt, das sie immer schon in sich trug. Ein Muss. Es gibt kein Ausweichen, keine Zweifel: Charlotte muss sie erfüllen.

Matthew Polenzani Die einzige Verantwortung, die Werther empfindet, ist jene gegenüber der Treue zu seiner Liebe zu Charlotte. Hat er sich erst einmal in Charlotte verliebt, so liebt er sie bedingungslos. Ohne auch nur im Entferntesten die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass er jemals eine andere lieben könnte.

»Freiheit«

KL Für Charlotte ist Freiheit nur eine Idee, eine Vorstellung, eine Illusion. Sie ist nichts Mögliches, nicht Erreichbares oder Reales. Freiheit gibt es für sie nur in der Pflicht. Aber die Freiheit der Wahl: die hat Charlotte nie.

MP Was auch immer Werther als Freiheit betrachtet hat, bevor er Charlotte traf: es gilt nicht mehr. Seit er sie kennt und mit ihr verkehrt, bedeutet für ihn Freiheit nur noch das Zusammensein mit Charlotte.

»Traum & Wirklichkeit«

KL Da sind wir wieder bei der Freiheit. Charlottes Traum ist Freiheit, die Freiheit, sich entscheiden zu dürfen. Das ist in ihrem realen Leben aber nicht der Fall. Also erträumt sich vielleicht eine Wirklichkeit, wie sie sie gerne hätte.

MP Leider kann Werther alles nur aus einem sehr engen Blickwinkel betrachten. Worum es auch geht – es sieht es durch den Filter seiner Liebe zu Charlotte. Als sie ihm schließlich die Tür zum Traum des gemeinsamen Glücks verschließt, sieht er nur einen einzigen Weg. Seine Traumwelt und die Realität sind so weit voneinander entfernt, dass er keine Möglichkeit erkennt, beides zu vereinen.

»Liebe«

KL Ich glaube, Charlotte liebt viele Menschen, ja, alle Menschen um sich herum, und das aus tiefem Herzen und mit aller Freiheit. Sie ist einfach voller Liebe. Wobei sie an Grenzen stößt, wenn es darum geht, diese Liebe auch auszudrücken. So liebt sie Werther. Aber es ihm nahebringen, das kann sie nicht.

MP Sie ist die treibende Kraft für Werther. Leider gibt es in seiner Psyche einen Aspekt, der ihn daran hindert zu verstehen, dass Liebe auf viele Arten und in vielen Facetten existiert. Da er vollkommen von Charlotte eingenommen ist, kann er nicht erkennen, dass es auch eine andere Person für ihn geben könnte. Auf poetischer Ebene ist dies eine schöne Vorstellung – eine einzigartige Liebe zu nur einem Menschen, die wahre Liebe.

»Gesellschaft«

KL Das Wort, das mir in Bezug auf Charlotte und Gesellschaft in den Sinn kommt, ist festgefahren. Rund um sie entdecken wir eine starr gewordene, strenge Gesellschaft mit festen Geboten. Die Regeln sind einfach die Regeln. Die Erwartungen sind die Erwartungen. Nicht zu verändern. Und niemand stellt das in Frage. In Bezug auf die Gesellschaft denke ich auch, dass die größte Tragödie für Charlotte darin besteht, dass sie eine tiefe Liebe und Sorge für Werther empfindet, ihm diese aber aufgrund ihrer Umstände nicht zeigen oder ausdrücken kann. Das ist die Falle, in der sie gefangen ist, und das ist der Punkt, an dem ich wirklich Mitgefühl für diese Figur empfinde.

MP Werther kümmert sich kaum um die Gesellschaft. Er versteht die Normen und Bräuche, hält sich aber nicht lange mit ihnen auf. Er weiß, dass die Gesellschaft von ihm verlangt, sich von Charlotte fernzuhalten. Er weiß um seine Pflicht ihr und Albert gegenüber. Diese Pflicht ist es, die ihm schließlich die Richtung weist, die er nimmt.

»Lebenserfüllung«

KL Ich glaube nicht, dass das eine Frage ist, die sich Charlotte stellt. Oder genauer: die sie sich jemals stellen durfte.

MP Werthers Weltbild ist sehr überschaubar. Erfüllung oder Zufriedenheit bestehen für ihn ausschließlich darin, mit Charlotte zusammen zu sein. Und als das nicht funktioniert, sucht er Erfüllung im Tod. Würden wir uns ein Psychogramm für Werther ausdenken, käme meiner Meinung nach heraus, dass er eine unreife Person ist, deren emotionale Entwicklung irgendwann gehemmt wurde. Werther war nie in der Lage, wirklich erwachsen zu werden.

»Glück«

KL Für Charlotte: in liebevollen Beziehungen.

MP Sein Glück ist unmittelbar mit ihrem verknüpft. Wenn Charlotte glücklich ist, ist auch er glücklich. Wenn sie leidet, leidet auch er. Wenn er sich am Ende das Leben nimmt, beendet er nicht nur seinen eigenen Schmerz. Er glaubt, dass er Charlotte letztendlich befreit und ihr das Glück ermöglicht, jenes Leben zu führen, das sie führen muss.

»Treue«

KL Treue ist Pflicht. Charlotte empfindet Treue besonders ihrer Schwester gegenüber. Sie ist dem Versprechen treu, das sie ihrer sterbenden Mutter gegeben hat, nämlich Albert zu heiraten, den sie nicht liebt. Sie ist ihrem Vater treu – und Albert. Aber das alles muss unter das zentrale Thema, nämlich Pflicht, subsumiert werden. Denn all das Erwähnte ist letzten Endes nicht das, was sie für sich selbst wollte oder will – nicht, nachdem sie Werther getroffen hat.

MP All die Begriffe, über die wir sprechen, laufen auf Treue hinaus. Werther versteht Charlottes Bedürfnis, Albert treu zu bleiben. Er glaubt daran, dass er selbst nur einer Frau treu sein kann. Und um Charlotte in ihrem Zusammenleben mit Albert nicht im Weg zu stehen, ist es seine Treue ihr gegenüber, die ihn dazu bringt, sich das Leben zu nehmen. Ich wünschte, jemand hätte ihm eine andere Perspektive geben können, um einen Ausweg zu sehen. Mein Herz schmerzt angesichts seiner Sehnsucht und des Weges, den er wählt. Natürlich hätten die Handlung und die Oper nicht die gleiche Wirkung, wenn er sich nicht für den Tod entschieden hätte. Denn für das Publikum ist es bewegend, sich eine Liebe vorzustellen, die so tief und wahr ist. Wir alle sehnen uns nach Liebe, danach, zu lieben und geliebt zu werden. Wir alle kennen das Gefühl unerwiderter Liebe. Und das lässt uns mit Werther mitfühlen. Genau dieses gemeinsame Wissen um Verlust und gebrochene Herzen lässt uns um ihn weinen – und mit Charlotte und einer Liebe, die sie niemals teilen konnten.

»Für das Publikum ist es bewegend, sich eine Liebe vorzustellen, die so tief und wahr ist.«