Wenn alle Chakren sich öffnen
Saison 2024/2025 |

Sie ist die Künstlerin Tosca. Die Adelige Maddalena di Coigny. Eine Konzertsängerin. Und jetzt die Prinzessin Iolanta, die auf der Suche nach Wahrheit und Liebe ist. Die Rede ist von der Sopranistin Sonya Yoncheva, die in der aktuellen Staatsopern-Spielzeit viele Facetten ihres unvergleichlichen Könnens präsentiert.
Wenn Sie jemand, der noch nie eine Note von Tschaikowski gehört hat, fragt, wie Tschaikowski eigentlich klingt. Was antworten Sie? Wie beschreiben Sie diese Musik?
Wissen Sie, Tschaikowski hatte eine unglaubliche Art des Komponierens, die direkt ans Herz geht. Ganz ohne Anlauf oder Vorbereitung. Ohne »Vorspeise«. Bereits die erste Note berührt einen im Innersten. Darin ist er übrigens einem anderen Meister der Oper, nämlich Giacomo Puccini, sehr ähnlich. Ich bewundere das sehr, denn für mich geht es in der Oper genau darum: Man sitzt im Zuschauerraum, hört einfach zu, schaut auf die Bühne – und man ist verwandelt. In einer anderen Welt… Wir alle wissen ja, dass Musik etwas unglaublich Spontanes sein kann. Denken wir nur an den Nussknacker, der mit Iolanta an einem Abend uraufgeführt wurde: Wahrscheinlich das bekannteste Ballett der Welt, und wer sich in den Nussknacker verliebt, kommt nie wieder los davon. Und genauso ist es mit Iolanta: Die Geschichte berührt, die Musik verzaubert. Ein wunderbares Werk.
Wer ist Iolanta aus Ihrer Sicht? Wer ist diese Frau, die in Bezug auf ihre Blindheit von allen angelogen wird und der erst ihr späterer Geliebter, der Graf Vaudémont, die Wahrheit sagt?
Ich habe zuvor schon Iolanta-Produktionen gemacht und es ging dabei auch sehr darum, dass sich der Vater für seine Tochter schämt. In meiner Kindheit habe ich im Kommunismus in Bulgarien genau das kennengelernt.
Jede und jeder, die oder der nicht als perfekt angesehen wurde, wie etwa Menschen mit einer Behinderung, wurden einfach beiseitegeschoben.
Die Oper unter diesem gesellschaftlichen Problem zu betrachten, kann sehr erhellend sein. Wenn wir aber über Iolanta als Person sprechen, würde ich meinen: Es kann für sie manchmal ein Vorteil sein, nicht zu sehen. Warum? Weil sie manch Schreckliches und Schlimmes in der Welt – und da ist es egal, ob wir uns im 21. Jahrhundert, im 18. oder jedem anderen befinden – nicht sehen kann. Sondern davon abgeschirmt lebt. Vielleicht ist die Welt, in der Iolanta existiert, unter diesem Aspekt betrachtet, schöner?
Am Beginn der Oper weiß sie nicht, dass sie blind ist – denn niemand sagt ihr die Wahrheit. Dennoch ist sie unglücklich. Sie fühlt, dass man ihr etwas verheimlicht, sie fühlt Sehnsucht.
Ja, sie ist traurig. Weil sie spürt, dass die Menschen um sie herum vom König gezwungen werden, nicht ehrlich zu sein. Als ich die Rolle vor Jahren zum ersten Mal studierte, verstand ich, dass man seine anderen Sinne deutlich stärker entwickelt, wenn einer fehlt. Aufgrund ihrer Blindheit ist sie also auf anderen Ebenen empfindsamer. Und die Sensibilität, die sie entwickelt: die ist außergewöhnlich. Sie merkt also, dass die anderen Frauen rund um sie nicht ehrlich sind, dass sie sie bei Laune halten wollen, aber in Wahrheit vielleicht gar nicht so gerne um sie herum sind. Dass sie nicht Teil ihrer Welt sein wollen. Und dann trifft sie diesen Mann, den Grafen Vaudémont, der dieses Lügenkonstrukt zum Einsturz bringt. Ihr werden die Augen geöffnet und sie kann sehen – noch vor der eigentlichen Operation, die ihr das Augenlicht bringt. Denn sie sieht – die Liebe. Und das war es, was ihr bisher gefehlt hat, was sie vermisst hat. Denn der Vater ist emotional fern von ihr, er schämt sich, die anderen sind unehrlich. Und über die Mutter wird gar nicht gesprochen. Jetzt aber dieser Mann und die Liebe – und vieles wird ihr klar.

Handelt es sich bei der Blindheit und dem Erkennen-Können um Bilder? Um eine Parabel? Befinden wir uns in einem Märchen, das auf etwas hinweist?
Für mich ist Iolanta kein Märchen. Worüber wir sprechen, kann ganz real sein. Denn manchmal sind wir blind, ohne tatsächlich blind zu sein. Wir können verwirrt sein und durcheinander, weil wir nicht wirklich verstehen, was das Leben ist, was die Liebe ist, und worauf es wirklich ankommt. Und worauf es ankommt: das kann vieles sein. Manche Menschen finden es in der Liebe zu ihren Kindern, zu ihrem Mann oder ihrer Frau, oder auch in der Liebe zur Kunst, zu ganz verschiedenen Dingen. Es ist beeindruckend, wenn man diese wahre Liebe entdeckt und versteht. Und erlebt, wie sie alles in einem öffnet, alle Chakren. Ich glaube, auch darum geht es in dieser Geschichte.
Was liebt Iolanta an Vaudémont? Was fühlt sie bei der Begegnung?
Seine Ehrlichkeit. Er kommt direkt auf den Punkt und lügt sie nicht an. Er nennt ihr das richtige Passwort, indem er ihr mitteilt, was sie nicht wusste: nämlich, dass sie blind ist. Indem er mit ihr über das Licht, das sie nicht sehen kann, spricht. Er öffnet eine Türe, die zur Antwort auf die Frage führt, die sie beschäftigt: Was fehlt mir? Warum bin ich nicht ganz glücklich? Durch ihn weiß sie es: Wow, klar, das ist es! Sie lernt Farben kennen – und ich meine nicht rot – grün – blau, sondern die Farben des Lebens, die wir alle brauchen.
Empfinden Sie das Ende der Oper als Happy end? Den Erkenntnisgewinn, den Iolanta hat?
Wie können wir das wissen? Wir kennen ja nur unsere Sichtweise. Wir wissen, wie die Welt außerhalb, die Iolanta nicht kannte, ist. Daher stellt sich die Frage aus unserem Blickwinkel: Vielleicht war sie besser dran, als sie manches nicht wusste? Die Illusion hat ihr einen sicheren Ort gegeben. Aber ob sie das auch so sieht? Schließlich ist es gut, die Wahrheit zu kennen! Um die Blindheit selbst geht es ja nicht, die ändert nichts an Vaudémonts Liebe. Er liebt sie, wie sie ist.
Das ist übrigens ein wichtiger Punkt, vor allem auch in unserer heutigen Zeit. Was, wenn ich nicht bin wie andere auf Instagram? Liebt man mich dennoch?
»Für mich ist Iolanta kein Märchen.
Worüber wir sprechen, kann ganz real sein. Denn manchmal sind wir blind, ohne tatsächlich blind zu sein.«