Was uns »Norma« heute noch erzählt

Saison 2024/2025 |

Leidenschaft, Drama und große Stimmen! Juan Diego Flórez und Federica Lombardi sprechen exklusiv über Bellinis »Norma« an der Wiener Staatsoper

Wie zeitlos ist die Norma? Was kann das Publikum des 21. Jahrhunderts noch berühren?

Juan Diego Flórez: Obwohl die Geschichte in einem historischen Druidenkontext angesiedelt ist, kämpfen die Figuren mit universellen Gefühlen wie Liebe, Eifersucht, Verrat und Reue. Bellinis elegante und kraftvolle Musik vermittelt diese Gefühle auf eine Art und Weise, die auch das moderne Publikum anspricht. Norma, Pollione und Adalgisa zeigen jeweils sehr menschliche Kämpfe, was Norma fesselnd und zeitlos macht. Trotz des historischen Abstands sind die emotionalen Wahrheiten der Oper sofort nachvollziehbar und das ist der Grund, warum uns das Werk nach wie vor fesselt.

Norma und Pollione sind beides Rollendebüts. Wie kam es dazu? Warum gerade jetzt?

Federica Lombardi: Norma ist stets ein Meilenstein für eine Sängerin. Als ich nun von der Staatsoper für diese Produktion angefragt wurde, war ich sehr geehrt. Aber ich habe dennoch einen Augenblick innegehalten, bevor ich zugesagt habe. Denn wir alle wissen, dass Norma keine einfache Partie ist, sie ist musikalisch wie darstellerisch ungemein fordernd. Aber da ich Donizettis Anna Bolena gesungen habe, weiß ich, dass ich auch für Norma bereit bin. Bereit, diese Rolle mit meiner Stimme, mit meiner Persönlichkeit zu interpretieren. Und bereit, die Herausforderung anzunehmen.

Große Geister und Komponisten wie Schopenhauer, Halévy oder Wagner bewunderten die Oper Norma. Warum? Was macht diese Oper so besonders?

Juan Diego Flórez: Norma verkörpert zeitlose, universelle Themen: Liebe, Verrat, Pflicht und Erlösung. Bellinis Talent für sublime Melodien kommt hier voll zur Geltung und vermittelt tiefe menschliche Gefühle auf eine zutiefst bewegende Weise. Die Oper ist von einer tragischen Größe und Reinheit des Ausdrucks, die die Zuhörerin und den Zuhörer von der ersten Note an fesseln. Denker wie Schopenhauer bewunderten die Art und Weise, wie Bellinis Musik, die oberflächlich betrachtet einfach zu sein scheint, gewaltige Gefühle hervorruft, die über alle Epochen hinweg das Publikum in den Bann ziehen.

In Norma geht es um Liebe, um sehr starke Leidenschaften. Pollione ist bereit, für die Liebe, für Adalgisa, alles zu opfern. Auch wenn seine Musik manchmal heroisch erscheint, 
singt er immer über die Liebe, über sie.

Norma ist nicht nur eine Rolle, sondern sie ist ein Mythos, wie etwa Lucia oder Violetta. Macht einem ein solcher Koloss Angst?

Federica Lombardi: Am Beginn war ich schon ein bisschen ängstlich. Und auch noch, während ich die Partie studiert und die Entwicklung des Charakters erforscht habe. Wenn man erst einmal in die Charakter- und Gefühlswelten dieser Frau eintritt! Und wir alle haben dieses Bild einer unberührbaren Figur im Kopf, mysteriös. Mir war es aber wichtig, Norma persönlicher werden zu lassen und von diesem Mythos, wie Sie es nennen, wegzukommen. Gemeinsam mit unserem Regisseur Cyril Teste wollen wir eine »andere« Norma finden. Wie ich es vorhin gesagt habe: Sie ist mehr Mensch als Mythos, und wir wollen die menschliche Seite zeigen, auch wenn es viele Produktionen gab, die sie nicht so sahen. Norma ist ja auch eine Mutter, eine Liebende. Und durch all diese Gefühle geht sie in der Oper. Auch ist es mir wichtig, sie in Beziehung zu den anderen Personen zu setzen, etwa zu Adalgisa oder Oroveso, es gibt viel Interaktion. Kurzum: Auch wenn Norma oftmals als unnahbar gesehen wird –
sie ist es nicht. Sie ist ein Mensch.

Renata Scotto sprach davon, dass diese Partie der Mount Everest der Oper ist, den man besteigen muss. Ein hoher Berg.

 

Federica Lombardi: Ja, ich liebe die Norma von Renata Scotto! Und ja: Für Norma braucht es Technik, Darstellungskraft, ein sehr genaues Bewusstsein seines Instruments – und auch des ganzen Körpers. Man muss die Koloraturen im Fokus haben, aber auch das Legato und die dramatischen Momente. Und jeder dieser musikalischen Zustände braucht eine ganze eigene Interpretation. Abgesehen davon: Die Norma-Sängerin singt praktisch die halbe Oper. (lacht). Aber so herausfordernd die Partie auch ist: sie schenkt einem im Gegenzug eine ganze Menge.

Ist der Pollione auch ein Mount Everest?

Juan Diego Flórez: Norma trägt zu Recht den Titel als eine der anspruchsvollsten Opernrollen, aber auch Pollione stellt eine ganz eigene Herausforderung dar. Sein Gesang ist voller Eindringlichkeit, aber auch voller schöner Linien und langer, ausdrucksvoller Phrasen. Die erste Arie und das Duett mit Adalgisa sind besondere Augenblicke, gleichzeitig technisch anspruchsvoll. Pollione hat keine Koloraturen oder ein stimmliches Feuerwerk wie Norma, aber auch er hat faszinierende Momente, ausdrucksstark und technisch anspruchsvoll, wie die anderen Bellini-Hauptrollen.

Was fordert Sie mehr? Die emotionale oder technische Seite der Partie?

Federica Lombardi: Das hängt zusammen. Einerseits geht es um die gute Balance, die richtigen Impulse. Andererseits ist die Norma natürlich emotional ungemein fordernd: Eine Mutter, die daran denkt, ihre Kinder zu ermorden! Der Zwiespalt der Geheimnisse, die sie wahren muss – also die Beziehung mit Pollione und die Tatsache, dass sie die Kinder vor der Welt geheim halten muss –, das ist ab einem gewissen Punkt einfach zu viel für sie.


Juan Diego Flórez: Bellinis Musik ist technisch anspruchsvoll und erfordert ein anhaltendes Legato und präzise Kontrolle; ohne diese Grundlage ist es schwierig, Polliones emotionale Reise vollständig zu vermitteln. Gleichzeitig wird die Figur von inneren Konflikten zerfressen, was ihr zusätzliche intensive dramatische Ebenen verleiht. Das Gleichgewicht zwischen dem hohen Niveau der technischen Ausführung und der emotionalen Tiefe der Rolle ist die wahre Prüfung – beide Aspekte bedingen sich gegenseitig und machen Pollione sowohl anspruchsvoll als auch sehr lohnend.

Liebt Pollione Adalgisa wirklich? Und am Ende der Oper: Sind seine neu entfachten Gefühle für Norma echt?

Juan Diego Flórez: Polliones Zuneigung zu Adalgisa ist echt, auch wenn sie vielleicht aus einer Sehnsucht nach etwas Neuem und Unkompliziertem herrührt. Im Laufe der Tragödie erkennt er aber die Tiefe seiner Bindung an Norma, vor allem, wenn er mit ihrer Hingabe und ihrer Aufopferung konfrontiert wird. In den letzten Momenten kommt seine wiedererwachte Liebe zum Ausdruck, er entdeckt, was wirklich zählt.

Und wie viel Federica steckt in Norma? Wie viel Norma in Federica?

Federica Lombardi: In dieser Produktion steckt viel von mir in Norma. Denn wir arbeiten mit meiner Persönlichkeit, wir versuchen, etwas Reales zu schaffen, eine echte Person, mit echten Gefühlen, mit meinen Gefühlen. Was übrigens gar nicht so schwierig ist, denn wer empfindet nicht mit Norma? Wer versteht nicht ihren Schmerz, wer leidet in der Situation nicht mit? Und all die Emotionen wie Liebe, Eifersucht, Wut, Rache... das kennt doch jede und jeder. Die umgekehrte Frage, was ich von Norma in mir trage? Hm, hoffentlich ihre Stärke!