Sag nie Maestro zu ihm

Saison 2024/2025 |

Jendrik Spinger beschreibt die einzigartige musikalische Arbeit des Christian Thielemanns.

Zuallererst: Sag nie Maestro zu ihm. Das rate ich allen Sängerinnen und Sängern, die zum ersten Mal mit Christian Thielemann zusammenarbeiten, gleich zu Beginn. Denn als »Maestro« sieht er sich absolut nicht, lieber ist ihm »Kapellmeister«. Darunter versammeln sich für Thielemann zahlreiche Tugenden, die mit Professionalität, Handwerk und einer großen Ernsthaftigkeit zu tun haben. Das zeigt sich in vielen Aspekten seiner Arbeit.

Perfekte Vorbereitung und akribisches Wissen

Ich kenne nicht viele Dirigenten, die schon bei Probenbeginn eine Partitur so gut studiert haben wie er. Bei ihm gilt tatsächlich der berühmte Satz: Besser die Partitur im Kopf als den Kopf in der Partitur. Er kann die Stücke buchstäblich auswendig. Nicht fotografisch auswendig, wie man es beispielsweise Daniel Barenboim nachsagt, aber in einer enormen Detailtiefe. So kann er bei Proben mitten in einer Tutti-Passage etwa ein drittes Fagott auf einen Flüchtigkeitsfehler an einer musikalisch gar nicht einmal exponierten Stelle aufmerksam machen. Wie er das macht? Er weiß es einfach!

Ein schönes Bild für diese akribische Kenntnis ist für mich die Tristan und Isolde-Premiere hier im Jahr 2003. Die Partitur lag vor ihm, jedoch blätterte er im Laufe des langen Abends nicht ein einziges Mal um – und beim Schlussakkord war sie immer noch auf Seite eins aufgeschlagen.

Effizienz bei den Orchesterproben

Wenn die Orchesterproben beginnen, legt er größtmögliche Effizienz an den Tag. Oft lässt er ganze Akte einmal durchspielen und unterbricht nicht, ruft aber immer wieder Korrekturen und Anmerkungen dazwischen. Erst danach wird chronologisch an einzelnen Stellen gearbeitet. Da geht es in der Regel dann stark um Schlüsselpassagen, schwierige Übergänge und technisch heikle Momente, weniger um ein erneutes komplettes Durchspielen.

Was er nicht macht, ist, am Anfang der Probenarbeit so etwas wie eine allgemeine Ansprache zu halten, in der er das Werk und seine Sicht darauf erläutert. Er ist absolut der Meinung, dass man einem Opernhaus bzw. Orchester mit entsprechendem internationalen Ruf Beethoven oder Strauss nicht zu erklären brauche.

»Auf den Blickkontakt legt Christian Thielemann größten Wert, am liebsten hätte er, dass alle, vor allem auch die Sängerinnen und Sänger, ihn die ganze Zeit anschauen.«

Direkt und sachlich: Thielemanns Arbeitsweise

Seine Anmerkungen und Korrekturen zu einzelnen Stellen sind nicht mit poetischen Bildern durchsetzt, sondern sehr geradlinig und direkt, sachlich-trocken im positiven Sinn. Es wird nichts blumig beschrieben, sondern es geht zum Beispiel bei einer Staccato-Stelle darum, wie kurz oder lang die Töne sind, welches Gewicht sie bekommen, aber nicht um eine dichterische Stimmungsbeschreibung.

Der geheimnisvolle Klang von Thielemann

Trotz dieser nüchternen Herangehensweise entsteht bei der Arbeit mit Thielemann ein unglaublich atmosphärischer Klang, der alle in den Bann zieht. Es ist fast transzendent, und selbst nach über 20 Jahren Zusammenarbeit weiß ich immer noch nicht genau, wie er das erreicht. 

Seine Zusammenarbeit mit den Musikern der Wiener Staatsoper funktioniert perfekt, weil sie in der Lage sind, seine Vorstellungen einzulösen – und er wiederum weiß, auf welche große klangliche und technische Qualität er zählen kann.

Blickkontakt: Ein elementarer Bestandteil seiner Arbeit

Ein weiterer zentraler Aspekt seiner Arbeit ist der Blickkontakt. Thielemann legt größten Wert darauf, dass alle, vor allem auch die Sängerinnen und Sänger, ihn die ganze Zeit anschauen. Auch er schaut alle an, und zwar buchstäblich. Er hat seine Augen überall und schafft es, dass sich jede und jeder Beteiligte persönlich und laufend angeschaut fühlt.

Dieser intensive Blickkontakt sorgt für eine ungemein organische Wiedergabe, die von den Musikern und Sängern immer wieder bestätigt wird. Es entsteht eine musikalische Einzigartigkeit und Geschlossenheit, die das Publikum ebenso wie die Mitwirkenden in den Bann zieht.

Lautstärke: Differenzierung statt Explosion

Ein zentrales Thema für Thielemann ist die Lautstärke. Für ihn geht es nicht darum, lautstark durch den Abend zu gehen. Er signalisiert oft mit seiner linken Hand ein »Weniger«, um die Musiker dazu zu bringen, differenziert zu spielen. Auch bei einem Fortissimo achtet er darauf, dass dieses nur dann zum Einsatz kommt, wenn es wirklich nötig ist.

Sein Motto ist: »Eigentlich sollte man nicht mehr als eine Stelle pro Akt haben, an der man es richtig krachen lässt«. Und wenn es dann krachen lässt, dann wird es auf eine ungemein effektvolle Weise getan, die die Spannung eines ganzen Aktes kulminieren lässt.

Wortgenauigkeit und die Kunst der Diktion

Ein weiteres wichtiges Element für Thielemann ist die genaue Diktion der Sänger. Er kann fast schon lästig auf einer gut verständlichen Aussprache beharren. Doch dies führt zu einer Wortgenauigkeit, die immer wieder aufs Neue fasziniert und die Aufführungen auf ein hohes künstlerisches Niveau hebt.