Rückblick, Gegenwart & Ausblick

Ballett |

Martin Schläpfer kreiert mit »Pathétique« ein neues Werk für das Wiener Staatsballett.

In welcher Bandbreite sich Martin Schläpfers inzwischen auf über 80 Werke angewachsenes choreographisches Schaffen erstreckt – das war auch in seinen fünf Jahren als Ballettdirektor des Wiener Staatsballetts zu sehen: Vom großen abendfüllenden Handlungsballett Dornröschen zu feinen Körperstudien wie das Solo Ramifications, von tief berührenden tänzerischen Reflektionen über Tod und Leben, Hoffnungslosigkeit und das Fragen nach Transzendenz wie in Ein Deutsches Requiem zu tiefenpsychologischen Erforschungen des Inneren wie in Drittes Klavierkonzert. 

Als grandioses Welttheater entfalteten sich nicht nur sein Gang durchs Jahr als Zyklus des Lebens mit Haydns Die Jahreszeiten, sondern auch die beiden auf großen Symphonien – Mahlers »Vierter« und Schostakowitschs 15. Symphonie – basierenden gleichnamigen Tanzstücke. 

Ein weiteres symphonisches Meisterwerk hat Martin Schläpfer nun als Grundlage seiner letzten Arbeit als Ballettdirektor und Chefchoreograph des Wiener Staatsballetts gewählt: Piotr Iljitsch Tschaikowskis Symphonie Nr. 6 h-Moll op. 74. Es ist eine Musik des Abschieds, eine Art Requiem, in das der russische Komponist sein Innerstes hineinkomponiert hat, kurz vor seinem zu frühen Tod, dessen wirkliche Umstände bis heute nicht geklärt sind. 

Doch Martin Schläpfer will seine Pathétique nicht als einen »Schwanengesang« verstanden wissen, nicht als ein letztes, sondern ein weiteres Werk für das Wiener Staatsballett. Noch einmal folgt er dabei seiner immer wieder überraschenden und neue Perspektiven eröffnenden Dramaturgie, die nicht an einem stringenten Narrativ interessiert ist, sondern an poetischen Bildern und der emotionalen Resonanz von inneren Konflikten und menschlichen Erfahrungen in der Sprache der Bewegung. Indem Martin Schläpfer Bruchstücke des eigenen Erlebens – differenzierte Beobachtungen des Menschen, aber auch der Tiere und der Natur, das Nachdenken über aktuelle gesellschaftliche Fragen und politische Entwicklungen, aber auch historische Reminiszenzen – auf eine Weise mit der Musik kurzschließt, welche Tschaikowskis Komposition als Partner auf Augenhöhe begreift, deren Impulsen sich aber nie ausliefert, entsteht in Pathétique erneut eine ganz eigene, nur in der Fantasie des Stückes existierende Realität, die uns aber unmittelbar zu packen weiß. 

Gegenwart und Vergangenheit, Schatten und Licht erscheinen in einem labyrinthischen Tanz aus Anspielungen, Neudeutungen und Brechungen verdichtet, die ins Zentrum des Menschseins führen, von der Vergänglichkeit der Träume und einer brennenden Gier nach Leben ebenso sprechen wie von Tschaikowskis »Dennoch« – dem hoffnungsvollen Glauben an eine bessere Welt. 

Die Textur des klassischen Balletts scheint in Martin Schläpfers Tanzsprache überall durch, seine typischen Posen, Formen, Bewegungsabläufe inklusive ihrer ursprünglichen Symbolik. Doch sind sie überlagert von einer weiteren Schicht, einem zweiten »Text«, der aus dem Inneren der Tänzerinnen und Tänzer wie vulkanische Eruptionen hervorbricht, einer Art inneren Notwendigkeit folgend, das Vokabular der Danse d’école nicht attackierend, sondern verwandelnd.

»Tschaikowskis 6. Symphonie ist ein Gigant und ich habe lange nachgedacht, ob sie eine gute Wahl für ein neues Ballett ist. Inzwischen weiß ich: Es war die richtige Wahl für mich und die Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts – und das Orchester der Wiener Staatsoper wird diese Musik großartig spielen.«

Dies zeigt sich besonders eindrucksvoll am 3. Satz der Symphonie mit seiner geradezu entfesselten Tanzwut, ein Vulkanausbruch einer mit großen Emotionen unterfütterten Virtuosität in all den Grands Jetés, Pirouetten, Battements und Stürzen auf den Boden, um blitzschnell wieder hochzuschnellen. Wie in einer Schlacht treten Gruppen von Tänzern gegeneinander an, gehen Frauen auf Spitze – gefährlichen Amazonen gleich – als entfesseltes Heer auf die Männer los. Eroberungslust prallt auf existenzielle Angst und schwingt sich zu den äußersten Grenzen menschenmöglicher Energieballung empor. 

Eine höchst fragile Welt weiß Martin Schläpfer dagegen zu entwerfen, wenn er in einem Pas de deux die ephemeren Wesen der romantischen Weißen Akte nachklingen lässt, eine der Welt entrückte Traumvision des klassischen Balletts, ein Echo aus einer anderen Zeit. Denn auch die Zerbrechlichkeit und apollinische Schönheit zählen zu den Farben seiner vielschichtigen »Körperklangpalette«, mit der er seine Choreographie im vierten Satz der Symphonie schließlich in ein existenzielles Endzeitdrama stürzen, alle vorher aufgebaute Bewegungsenergie geradezu implodieren lässt. 

Plötzlich sitzen sich zwei Menschen gegenüber, Mann und Frau, schauen sich an, eine Beziehung tut sich auf, doch durch den Körper des Mannes geht ein Zittern, ein Aufbäumen ... Andere kämpfen zu Tschaikowskis erschütterndem Adagio lamentoso – ein langsames Finale, mit dem der Komponist alle Gesetze der klassischen Symphonie-Architektur außer Kraft setzt – gegen das Sein mit wild um sich schlagenden Gebärden, körperlichen Kontraktionen und stummen Verzweiflungsschreien an.

Wir sind an einem dystopischen Ort angelangt, an dem aber immer wieder etwas durchblitzt, was sich in vielen Werken Martin Schläpfers findet: das Staunen angesichts des Anderen, das Aufspüren des Wunders einer vielleicht göttlichen Schöpfung. Erzählt wird uns dies durch eine Vielzahl an Tänzerpersönlichkeiten, wie sie das Wiener Staatsballett seit 2020 geprägt haben – und damit Pathétique noch einmal zu einem Momentum eines Ensembleverständnisses, das nicht auf Uniformität zielt, sondern in jedem Menschen und Tänzerkörper ein individuelles Universum erkennt. 

Wie sehr Martin Schläpfer aber auch kollektive Energien für starke Bilder zu nutzen weiß, davon zeugt das Finale seiner Pathétique, das über Tschaikowskis Partitur hinausführt in eine geradezu sublime Heiterkeit mit der Arie für Sopran, Violine und Cembalo »Süße Stille« aus Georg Friedrich Händels Neun deutsche Arien. »Für mich ist das eine Öffnung, eine Art Kriechspur hinaus aus der überwältigenden Emotionalität von Tschaikowskis Adagio lamentoso«, erläutert Martin Schläpfer seine ungewöhnliche Dramaturgie, die zugleich auch einen Bogen zur Essenz der beiden im Programm vorausgegangenen Werke von George Balanchine und Merce Cunningham schließt: die Bühne wird zu einem utopischen Raum, in dem nichts mehr ist als Musik und Tanz.