Meister aller Fächer

Saison 2024/2025 |

Hausdebüt vor fast 30 Jahren, rund 300 Dirigate an der Staatsoper: die Rede kann nur von Bertrand de Billy sein.

Der französischstämmige Dirigent ist eine künstlerische Säule des Hauses, ein von allen Abteilungen geschätzter Musiker und beredter Gesprächspartner. Im Dezember leitet er nicht nur die Wiederaufnahme der legendären Les Contes d’Hoffmann-Produktion Andrei Şerbans, sondern auch die unvergängliche Fledermaus. Und erhält die höchste Auszeichnung der Wiener Staatsoper: die Ehrenmitgliedschaft!

Jacques Offenbach schrieb zahllose Operetten und fünf Opern. Immer wieder wird gesagt, dass es bei ihm keine unterschiedlichen Stile für diese unterschiedlichen Genres gab, sondern immer nur einen Offenbach-Stil, egal, ob für Oper oder Operette. Würden Sie dem zustimmen?

Ich würde eher sagen: Es gibt Offenbach und es gibt den Les Contes d’Hoffmann-Offenbach, also den Komponisten der letzten Offenbach-Oper. Und diese ist in den von ihm fertiggestellten Teilen in vielem anders als alles zuvor von ihm Geschriebene. Dieses Phänomen eines letzten, plötzlich »anderen« Werks gibt es übrigens bei etlichen anderen Künstlern auch. Es ist verblüffend zu sehen, wie ein Komponist am Ende seines Opernschaffens plötzlich etwas ganz Neues macht. Denken wir an Verdi mit Falstaff, an Wagners Parsifal, an Rossini mit Guillaume Tell. Oder schauen wir in die bildende Kunst: Ich habe in der Albertina vor einigen Jahren in einer Ausstellung die letzten Gemälde von Claude Monet gesehen. Welche Überraschung! Plötzlich malte er wie ein Matisse oder wie Picasso. Verrückt, oder? In diesem Zusammenhang fiel mir eine Studie ein, in der Sterbende gefragt wurden, was sie im Leben bereuen. Die Antwort war häufig: Nicht genug gelebt zu haben, nicht genug geliebt zu haben und nicht ausreichend das getan zu haben, was man wirklich wollte. Was bedeutet das nun in unserem Zusammenhang? Dass sich am Ende eines Schaffens mit einer großen Ehrlichkeit noch einmal zeigt, was Künstler wirklich wollen, was ihnen wichtig ist. Im Falle von Offenbach zeigt sich das in den hinterlassenen Fragmenten von Contes d’Hoffmann! Er sprach noch kurz vor seinem Tod davon, dass er die Uraufführung dieser Oper so gerne erleben würde. Das war ihm leider nicht vergönnt. Aber die von ihm noch fertiggestellten Teile sind sein innerster, ehrlichster Ausdruck.

Und dann Offenbachs Verwandlung am Ende, bei Contes d’Hoffmann: Was macht das Werk so außergewöhnlich, was ist das Neue, das man erlebt?

Es ist schon eine große Tragik, dass es Offenbach nicht vergönnt war, die Gesamtkonzeption zumindest in vollständiger Skizze zu hinterlassen. Der wichtigste, nämlich der letzte Akt, existiert ja nur im Libretto, das der Zensurbehörde vorgelegt werden musste, aber musikalisch ist so gut wie nichts da. Das öffnet natürlich weit das Tor für alle Spekulationen: Vielleicht ist es ein Resümee seines Schaffens? Oder sehen wir die Oper als Don Giovanni-Fortsetzung und zwar in dem Sinne, dass Don Giovanni der große Suchende ist, der dem Phantom der einzig wahren, »idealen« Partnerin nachjagt und verschiedene Facetten – Mutter, Ehefrau, Geliebte, Vertraute, beste Freundin und so weiter – in einer Person finden will? Die unterschiedlichen Frauenfiguren in Contes d’Hoffmann wären, so betrachtet, Anteile einer idealisierten, herbeifantasierten Gesamtperson, von der die Titelfigur träumt. Offenbach wollte möglicherweise so ein allumfassendes Ideal auch musikalisch schaffen: Also alle denkbaren Facetten in einer Oper! Vom Unsinn, den die betrunkenen Studenten in der Weinstube singen, bis hin zur größten Schönheit und zu den tiefsten Emotionen. Natürlich – wie sollte es denn bei Offenbach auch anders sein – ist auch der Humor wesentlich, es gibt Momente in Contes d’Hoffmann, bei denen man herzlich lachen kann, und selbst in den tragischen Momenten bleibt immer ein Augenzwinkern. Jacques Offenbach will in Contes d’Hoffmann alles miteinander versöhnen und zusammenführen.

 

4o mini

»Selbstverständlich verlangt das französische Repertoire eine gewisse Transparenz, Flexibilität und oft auch Leichtigkeit, aber beides steht in keinem Widerspruch zum Wiener Klang.«

Eine der zentralen Fragen zu dieser Oper ist jene nach der Fassung. Das Werk wurde von Offenbach nicht vollkommen finalisiert und es existieren mehrere mögliche Spielversionen. Gibt Ihnen dieses Offene mehr Freiheit?

Für diese Wiederaufnahme sehe ich es als selbstverständlich, dass wir exakt jene Fassung spielen, die an diesem Haus 1993 zur Premiere gekommen ist. Ich finde Andrei Şerbans Inszenierung nach wie vor eine szenische Lösung, die ausgezeichnet funktioniert. Wir frischen das Ganze auf – aber wir ändern nichts an der Struktur. Interessanterweise bin ich gerade auch inmitten der Arbeit an einem neuen Hoffmann in Berlin. Da arbeite ich mit der Regisseurin seit Monaten an einer eigenen Fassung des Werks. Man muss bei diesen Fassungen natürlich immer auch das Haus mitbedenken, für das eine Neuproduktion entsteht: Wenn es sich um einen Stagionebetrieb oder ein Festival handelt, also ein Theater, das nur eine Aufführungsserie mit nur einer Besetzung spielt, dann kann man sich in puncto Fassung ein bisschen austoben. In einem Repertoiretheater wie der Wiener Staatsoper ist das weniger sinnvoll; da braucht es eine Version, die möglichst viele internationale Sängerinnen und Sänger beherrschen. Eine Raritätenfassung wäre in diesem Falle unbrauchbar.

Joseph Haydn sagte einmal in Hinblick auf seine Musik: »Meine Sprache verstehet man durch die ganze Welt.« Davon unabhängig gibt es aber trotzdem bei jedem Komponisten nationale Interpretationstraditionen. Man spielt beispielsweise Britten in seiner Heimat nun einmal anders als etwa in Mitteleuropa. Wie sieht es diesbezüglich mit Offenbach aus? Was macht ein französisches Spitzenorchester im Falle von Les Contes d’Hoffmann anders als das Orchester der Wiener Staatsoper?

Ich habe vor wenigen Wochen mit dem Orchestre National de France im Pariser Théâtre des Champs Elysées neben Mozarts Requiem auch Poulencs grandiose Sept Répons des ténèbres aufgeführt. Also französisches Repertoire mit einem französischen Orchester. Natürlich, die ganz spezielle Leichtigkeit, der etwas trockenere Klang – insbesondere bei den Streichern –, den wir da zu Gehör gebracht haben, wird sich andernorts mit einem anderen Orchester so in dieser Form nicht einstellen. Hier in Wien würde dieselbe Musik sicherlich voller und runder klingen. Aber macht das etwas? Nein – ganz im Gegenteil! Ich vermisse mittlerweile geradezu schon diesen schönen runden, warmen Klang, wenn ich nicht in Wien bin. Selbstverständlich verlangt das französische Repertoire eine gewisse Transparenz, Flexibilität und oft auch Leichtigkeit, aber beides steht in keinem Widerspruch zum Wiener Klang. Ich konnte Zuletzt an der Wiener Staatsoper unter anderem Roméo et Juliette, Faust, Dialogues des Carmélites und Guillaume Tell machen – und es hat mir größte Freude bereitet. Das Orchester weiß durch die lange Zusammenarbeit, was mir wichtig ist, und ich kenne die hiesige Tradition, die ich in die Interpretation ganz selbstverständlich mit einbinde. Das Ergebnis war französische Musik, der etwas Wiener Charme beigemengt war. Ist doch fantastisch, oder? Und was Offenbach betrifft – nun, er war ja, wie gesagt, gebürtiger Deutscher. So wie sein Vater – übrigens ein mehr als passabler Geiger –, von dem er viel musikalisches Wissen aufgenommen und dann mit den eigenen Erfahrungen am Pariser Konservatorium und als Cellist in der Opéra-Comique vereinigt hat. Diese unterschiedlichen Quellen spiegeln sich nicht zuletzt auch in Les Contes d’Hoffmann.