»Lohengrin«: Eine Reise durch Wagners Meisterwerk

Saison 2023/2024 |

Christian Thielemann über Entstehung & Musik von »Lohengrin«

Am 28. August 1850 wurde Richard Wagners dritte und letzte romantische Oper, Lohengrin, unter der Leitung von Franz Liszt in Weimar uraufgeführt. Zu diesem Ereignis strömte die europäische Intelligenz nach Weimar – unter den Anwesenden waren Giacomo Meyerbeer, Bettina von Arnim, der Schriftsteller Karl Gutzkow sowie Kritiker aus London und Paris. Die Erwartungen waren hoch, doch die Reaktionen blieben verhalten. Der Komponist selbst konnte nicht anwesend sein.

Die Entstehung von Lohengrin

Wagners erste Auseinandersetzung mit der Lohengrin-Sage geht auf seinen ersten Paris-Aufenthalt im Jahr 1839 zurück. Als Quellen dienen Wolfram von Eschenbachs Parzival, den Wagner während einer Kur in Marienbad 1845 studierte (in der Übersetzung von Karl Simrock), sowie Texte von Joseph Görres und Jacob Grimm. Die Entstehung des Werkes ist jedoch zerrissen: Das Libretto lag bereits Ende 1845 vor, und erste Kompositionsskizzen entstanden bis zum Sommer 1847 – das Vorspiel wurde zuletzt fertiggestellt.

Konzentration im ländlichen Raum

Um sich besser konzentrieren zu können, zog Wagner in die ländliche Umgebung von Graupa, nahe Pirna, in das sogenannte Schäfersche Gut, das heute als Richard-Wagner-Museum dient. Die Ausarbeitung der Partitur geschah in einem euphorischen Schaffensrausch von Januar bis Ende April 1848. Nichts schien der Uraufführung in Dresden im Wege zu stehen.

Musik

Die Partitur von Lohengrin zeichnet sich durch große Schlichtheit und gleichzeitig höchste Raffinesse aus. Sie ist sowohl naiv und sentimental als auch melodiös und avantgardistisch. Während Wagner mit Tannhäuser haderte, gelang ihm Lohengrin auf Anhieb. Mit Tannhäuser verabschiedete er sich von der Spieloper, während er mit Lohengrin ein Denkmal für die deutsche romantische Oper setzte und sie zugleich überwand. Der Held, der seinen Namen nicht nennen darf, der Gral als übergeordnete Instanz – all dies trägt bereits viel von der Kunstmythologie des Parsifal in sich. Kein Wunder, dass das Weimarer Publikum 1850 ratlos reagierte.

Durchkomponierung und musikalische Struktur

Formal ist Lohengrin Wagners erstes wirklich durchkomponiertes Werk. Stärker als in Tannhäuser setzt er hier auf die Kunst des Übergangs: Das motivische und harmonische Material der drei Akte ist so eng miteinander verwoben, und der Orchestersatz so symphonisch organisiert, dass sich die einzelnen musikalischen Nummern, wie Elsas traumwandlerischer Auftritt im ersten Akt oder der Hochzeitsmarsch, organisch aus dem Gesamtwerk ergeben. Wagner trifft charakteristische Zuordnungen: Lohengrin und die Gralswelt sind in der „blau-silbernen Schönheit“ (Thomas Mann) der Tonart A-Dur verankert, während das Antagonistenpaar Ortrud/Telramund das düstere fis-Moll repräsentiert. Der König hingegen tritt in plakativem C-Dur auf. Diese Zuordnungen spiegeln sich auch in der Instrumentation wider: Der König wird von Blechbläsern unterstützt, Ortrud/Telramund von Holzbläsern und tiefen Streichern, während Lohengrin von einem strahlenden Klangteppich aus geteilten Geigen umgeben ist. Wagners Musik ist eine Welt, in der das Gute nie ohne das Böse existieren kann, und der Himmel niemals ohne die Hölle.

Vom Ouvertüre zum Vorspiel

Lohengrin ist die erste Oper Wagners, für die er keine „Ouvertüre“ mehr schreibt, sondern ein „Vorspiel“. Diese Begriffsänderung mag klein erscheinen, doch sie zeigt eine klare Abkehr von den italienischen und französischen Opernkonventionen. Wagner möchte eine eigene Tradition begründen und befindet sich auf einem vielversprechenden Weg. Das Vorspiel zu Lohengrin hat – im Gegensatz zu den Ouvertüren von Der fliegende Holländer und Tannhäuser – alles andere als ein effektvolles Ende. „Ohne Pause weitergehen“, schrieb Wagner unter die transzendierenden Streicher des Schlusses. Und so beginnt sofort die erste Szene des ersten Aktes mit König Heinrich und seinen Gefolgsleuten.

Klangfarben und orchestralische Meisterschaft

Wagner wollte keine Stufen erklimmen, sondern Farben mischen. Das gelingt ihm in Lohengrin mit einem mächtigen Orchesterpedal, einem Rauschen aller Instrumente von oben bis unten und zurück – einzigartig! Ebenso grandios gestaltet er den Schluss der Szene im Brautgemach. „Weh! Nun ist all unser Glück dahin!“, singt Lohengrin, „tief erschüttert“, nachdem Elsa ihm die verbotene Frage gestellt hat und Telramund gefallen ist. Den aufmerksamen Hörern wird dieses „Weh! Nun ist all unser Glück dahin!“ an Lohengrins Frage im ersten Akt erinnern: „Woher ich kam der Fahrt,/noch wie mein Nam’ und Art!“, also an den zweiten Teil von „Nie sollst du mich befragen“. Gleiche Motive, gleiche Harmonien, nur doppelt so langsam und in völlig anderer Stimmung: mehr Tiefenlage, mehr Requiem, nur fahles Cello. Und dann diese Glocke, die wie eine Totenglocke aus galaktischer Ferne ertönt.

Spannungsaufbau und Kontraste

Immer wenn bei Wagner die Spannung auf dem absoluten Siedepunkt ist, passiert plötzlich nichts mehr. Nur ein einsamer Glockenschlag oder ein Paukenwirbel, wie nach Telramunds Tod. Der Tumult bricht los, Elsa schreit: „Rette dich! Dein Schwert! Dein Schwert!“ Und dann nur Stille, Stille, Stille. Vier Takte Pauke allein, und man denkt, das Herz bleibt einem stehen. Was setzt Wagner gegen diese lähmende Depression? Den Reitermarsch, schmetternde Fanfaren, „Heil, König Heinrich!/ König Heinrich Heil!“ – mit zehn, zwölf Trompeten auf der Bühne. Ein verrückter, toller Kontrast!

Dirigierkunst und musikalische Interpretation

„Sehr feurig, doch nie übereilt“, schreibt Wagner, und das sollte unbedingt beherzigt werden. Das schwere Blech, die Virtuosität des Orchesters – das muss rasen und auch knallen mit den vielen Triolen und Punktierungen, aber man darf es nicht überziehen. Der erfahrene Kapellmeister wird stets sagen, dass er dieses Vorspiel in Bayreuth um drei Prozent langsamer dirigiert als im offenen Graben, damit die Musik deutlich bleibt. Der „mystische Abgrund“ mischt, wo es vielleicht gar nichts zu mischen gibt, und schluckt die Obertöne. Eine Partitur, die so auf Glanz gebürstet ist wie die von Lohengrin, wird in Bayreuth immer mattierter klingen als in München oder Wien.

Somit stellt sich beim Lohengrin für den Dirigenten eine wichtige Frage: Wie viel Struktur braucht Wagners Musik? Wie viel verträgt sie? Und wie löse ich den Widerspruch zwischen Atmosphäre und Deutlichkeit, zwischen Misch- und Spaltklang? Die Antwort geben Handwerk, Gefühl und Erfahrung.