Lohengrin: Das Rätsel einer Oper
Saison 2023/2024 |
Mit Lohengrin schuf Richard Wagner nach Der Fliegende Holländer und Tannhäuser die letzte seiner großen romantischen Opern. Der erzwungene Rückzug des Helden am Ende des Werks spiegelt auch Wagners eigenes Schicksal wider: Wegen seiner Teilnahme an den Dresdner Maiaufständen von 1849 verlor er seine Position als Königlich Sächsischer Hofkapellmeister und wurde zum politischen Flüchtling. Im Exil in Zürich begann er, von der Strafverfolgung sicher, seine Vision der Nibelungen-Tetralogie zu entwickeln und damit das herkömmliche Operntheater zu hinterfragen. Doch seine „letzte Oper“ blieb in Dresden unaufgeführt, und erst sein Freund Franz Liszt brachte sie 1850 in Weimar zur Uraufführung – in Abwesenheit des steckbrieflich gesuchten Autors.
Die Premiere von Lohengrin stieß zunächst auf gemischte Reaktionen, doch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurde das Werk zu einem großen Erfolg und erschloss Wagner ein breites Publikum.
Lohengrin: Vom romantischen Held zur politischen Projektionsfläche
Wagners Lohengrin, Höhepunkt künstlerischer Romantik, eröffnet auch einen Blick in die dunklen Seiten politischer Romantik. Der Schwanenritter, der einer bedrohten Jungfrau zur Rettung kommt, versprach Einheit und Stärke gegen äußere und innere Feinde. Doch sein Heldentum scheitert, als die Geliebte, Elsa, an seiner Reinheit und Anonymität zu zweifeln beginnt. Lohengrin zieht sich – unverstanden und enttäuscht – zurück, was ihn zum Projektionsbild für Führerfiguren machte, von Ludwig II. bis Adolf Hitler.
Wagners Schöpfung bot eine mythische Bühne, auf der patriarchale und politische Vorstellungen über das Bild des heroischen Mannes und der ergebenen Ehefrau inszeniert wurden. Kein anderes Werk Wagners stieß auf so viel gläubige Hingabe und zugleich beißenden Spott. Heute ist es Aufgabe des Theaters, diese Rollenbilder und Konflikte im Stück sensibel zu dekonstrieren.
Elsa und Ortrud: Kultur des Zweifels gegen kollektive Hypnose
Einzig die Skepsis, personifiziert durch die heidnische Figur der Ortrud, stellt sich gegen die verklärende Macht des Erlösers Lohengrin. Theaterkünstler wie Wieler, Morabito und Viebrock folgen Wagners Spuren und bringen die düsteren Mythen und Abgründe dieser Geschichte auf die Bühne, so wie Thomas Mann es formulierte: „Das Amplifizieren, Realisieren und Genaumachen des mythisch Entfernten.“
Diese Künstler wagen einen tiefen Blick in das Märchengeflecht, das Wagner für seinen Lohengrin-Mythos nutzte. Dabei stoßen sie auf eine Geschichte, die so beginnt:
„Es war einmal ein König, der starb und hinterließ zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Die Tochter war aber ein Jahr älter als der Sohn. Und eines Tages stritten die beiden Königskinder, wer von ihnen König werden sollte, denn der Bruder sagte: ‚Ich bin ein Prinz, und wenn Prinzen da sind, kommen Prinzessinnen nicht zur Regierung.‘ Die Tochter aber sprach: ‚Ich bin die Erstgeborene und Älteste, mir gebührt der Vorrang.‘“
Elsa: Die verdrängte Erbin und der verdrängte Bruder
Diese Märchenerzählung existiert in vielen Varianten und beschreibt oft einen mörderischen Konflikt zwischen Bruder und Schwester. In einigen Geschichten ermordet der Bruder die Schwester, doch in anderen ist es die Schwester, die sich gegen die patriarchale Nachfolgeregelung auflehnt und den Bruder tötet. Wagners Lohengrin greift diese Konflikte auf: Elsa, die ältere Tochter des Herzogs von Brabant, ist aufgrund ihres Geschlechts von der Erbfolge ausgeschlossen. Sie wird zur Ehe mit ihrem Vormund Telramund gezwungen, um die Macht im Reich zu sichern. In dieser Konstellation steckt alles, was Elsa dazu bringen könnte, sich aus ihrer demütigenden Geschlechterrolle durch einen Gewaltakt zu befreien.
Die vergessene Frage nach Gottfried
In der Oper beginnt alles mit der Suche nach Elsas Bruder, dem Thronfolger Gottfried, der spurlos verschwunden ist. Elsa wird wegen Brudermordes angeklagt, doch das Erscheinen Lohengrins überstrahlt alles – auch die Frage nach Gottfrieds Verbleib. Warum fragt Elsa selbst nicht nach ihrem Bruder? Schließlich müsste sie als dessen engste Angehörige doch die Wahrheit wissen wollen. Doch im Gegenteil: Es liegt in ihrem Interesse, dass sein Schicksal vergessen wird – denn sie ist diejenige, die von seinem Verschwinden profitiert.
Lohengrin als das verdrängte Bild des Bruders
Das berühmte Verbot, „Nie sollst du mich befragen...“ lenkt die Aufmerksamkeit auf Lohengrin, um von der anderen, entscheidenden Frage abzulenken: Wo ist der Thronfolger? Lohengrin wird zu einer von Elsa kreierten Ersatzgestalt, die den verdrängten Bruder symbolisiert. Lohengrin ist nicht nur Retter, sondern auch Simulakrum Gottfrieds – ein Bild, das den echten Bruder verdrängt. Nur wenn der eine verschwindet, kann der andere erscheinen. Das glänzende Silbergewand des Schwanenritters spiegelt das glänzende Gewand Gottfrieds, in dem dieser am Ende der Oper im wahrsten Sinne des Wortes wieder auftaucht. Doch im Gegensatz zu Gottfried ist Lohengrin der Partner, der Elsa eine gleichberechtigte Verbindung ermöglicht – oder zumindest die Hoffnung darauf.