»La Sonnambula« – Die Oper mit angehaltenem Atem

Saison 2023/24 |

Erlebe Bellinis Magie: Wie »La Sonnambula« mit meisterhaften Melodien und intensiven Gesängen eine Welt schafft, die tief berührt und verzaubert.

In diesem Stück lernen wir das Phänomen Bellini kennen und wie er es schafft, mithilfe meisterhafter Melodien die Besucher*innen von La Sonnambula in eine emotionale Welt zu entführen, in der Musik und Gesang eine fast körperliche Nähe erzeugen. Durch seinen einzigartigen Umgang mit Melodien und der Kraft des Gesangs wird jede noch so unspektakuläre Szene zu einem intensiven Erlebnis.

Die Erwartungen an Bellinis Musik

Wer in die Oper geht, um einen Bellini zu hören, erwartet meist schöne Melodien, beeindruckende Koloraturen und vielleicht ein paar rührende Momente. Und natürlich den guten Rotwein beim Italiener danach – denn das Stück dauert ja nicht lang. Doch während der Ouvertüre, wenn der Mantel abgegeben, Bekannte gegrüßt und der Platz eingenommen ist, denkt man vielleicht noch an ganz alltägliche Dinge – wie ob man das Auto wirklich abgeschlossen hat. Dann aber, mit den ersten gesungenen Tönen, breitet sich eine unerwartete Ernsthaftigkeit aus. Eine Eindringlichkeit, die so gar nicht zu den üblichen Erwartungen einer Belcanto-Oper passt. Und wenn Amina in La Sonnambula auftritt und, wie in Trance, ihre ersten Worte an die Dorfgemeinschaft richtet, öffnet sich plötzlich ein Geheimnis. Man fragt sich: „Wie macht er das? Was bewirkt Bellini mit diesen wenigen Noten, in dieser unspektakulären Szene?“

Der Bellini-Effekt: Emotionale Berührung durch Musik

Diese Erfahrung macht der Autor bei jeder Aufführung, sei es bei Norma, I Capuleti e i Montecchi oder eben La Sonnambula. Im Verlauf der Handlung, wenn sich die Emotionen der Figuren intensivieren, stellt sich immer wieder die gleiche Frage: Wie kann Bellini, oft mit unerwartet heiteren Melodien in den dramatischsten Momenten, solch eine tiefe emotionale Wirkung erzielen? Diese Melodien, die in einem anderen Kontext fast wie ein fröhlicher Tagesgruß wirken könnten, rühren im Theater den Zuschauer zu Tränen. Bellini lässt uns nie einfach passiv zuhören – er spricht uns immer emotional an, berührt uns im wahrsten Sinne des Wortes, und das unabhängig vom Charakter der Musik.

Die Philosophie hinter Bellinis Musik

Im 19. Jahrhundert wurden immer raffiniertere Mittel entwickelt, um die Emotionen des Publikums zu erreichen. Während bei Komponisten wie Puccini und Verdi die Handlung, der Text, das Orchester und die Gesangslinie miteinander verschmelzen, verfolgt Bellini einen anderen Ansatz. Das Orchester in seinen Werken bleibt in seiner Funktion zurückhaltend, nur als harmonische Stütze der Gesangslinie, ohne sich zu einer eigenen, emotionalen Stimme zu erheben. Es verdoppelt die Hauptstimme und markiert die Anfangstöne der Arien – mehr nicht. Keine ausgeklügelte Orchestrierung, keine atmosphärischen Klangteppiche. Das Orchester bleibt fast unsichtbar, der Gesang dagegen steht im Mittelpunkt.

Die Magie der Gesangslinie

Die Gesangslinie Bellinis ist das Herzstück seiner Kompositionen. Sie ist eine Meisterleistung in der Balance zwischen zarter Melodie und kraftvoller Ausdruckskraft. Aber was macht diese Gesangslinie so besonders? Was hebt sie sich von der der Zeitgenossen ab? Besonders auffällig ist, dass Bellinis Melodien oft nicht zu der gerade dargestellten emotionalen Situation passen – was man auf die Gepflogenheiten der italienischen Oper jener Zeit zurückführen kann. Doch Bellini geht tiefer: Er hört nicht nur auf die Struktur einer Melodie, sondern darauf, was sie mit der Stimme macht. Die Melodie erzeugt eine vertraute, fast schon körperliche Verbindung zwischen dem Sänger und dem Publikum. Wenn der Hörer dieser Stimme folgt, hört er nicht nur die Noten, sondern spürt die Energie und die Emotionen, die in der Darbietung liegen.

Das „Hineinhorchen“ in die Melodie

Dieses ständige „Hineinhorchen“ in die Melodie, die Verlangsamung der Zeit, das Zögern und Verschieben von Zielnoten – all das sorgt für eine fast physische Spannung, die den Zuhörer in den Bann zieht. Die Melodie wird zum Ereignis, der Gesang wird zur Erfahrung. Und obwohl Bellini in seinen Skizzen diese Melodien oft ausarbeitete, geht es ihm letztlich nicht nur um die Schönheit der Linien. Es geht ihm um die osmotische Qualität des Gesangs, die Fähigkeit, Emotionen ohne intellektuelle Vermittlung direkt zu übertragen.

Das Hören als dramaturgisches Element in La Sonnambula

In La Sonnambula wird das Hören sogar zum dramaturgischen Schlüssel. Fast jeder Wendepunkt in der Handlung wird durch das Hören der Geräusche der eintreffenden Figuren eingeleitet. Das Horchen wird hier zu einem elementaren Faktor der Erzählung. Interessanterweise ist es gerade Amina, die sich nie ankündigt. Sie erscheint einfach, wie eine Erscheinung, und ihre Schlafwandler-Gestalt wird von den Dorfbewohnern als Gespenst gedeutet. Sie ist die einzige Figur, deren Auftritte die Zeit scheinbar anhalten – bei ihr nimmt Bellini jegliches Tempo aus der Musik und Szene. Jeder einzelne Ton wird zu einem Ereignis, und es ist, als würde die ganze Welt den Atem anhalten.