Interview mit Martin Schläpfer

Saison 2024/2025 |

Ich mag Typen, ich mag die Menschen - über seine letzte Saison als Ballettdirektor der Wiener Staatsoper

AdP Die Spielzeit 2024/25 ist deine letzte als Direktor des Wiener Staatsballetts. Was war dir für die Planung wichtig?

MS Eines meiner Ziele für Wien war es, das Programm stilistisch und thematisch in verschiedene Richtungen weiter zu öffnen. Natürlich sind unsere beiden Häuser Repertoirestätten – auch für den Tanz. Sie haben als solche darin eine große Qualität und sind bedeutend für das Wiener Staatsballett und unser Publikum. Darüber hinaus werden wir in meiner letzten Saison aber nochmals eine Reihe von Uraufführungen zeigen. Ich habe die Choreograph*innen Andreas Heise, Alessandra Corti, Louis Stiens und Martin Chaix eingeladen. Sie sind bereits etabliert, aber noch nicht in aller Munde und arbeiten erstmals in Wien.

AdP Alle vier machen nicht einfach Ballette, sondern sind auf der Suche nach eigenen Ausdrucksformen, eigenen Themen, einem eigenen Standpunkt.

MS Ich erwarte mir von ihnen eine Frische für unseren Spielplan, dass sich zum Abschluss meiner Direktion weitere Türen öffnen. Und ich selbst werde mit Pathétique auch ein neues Ballett für die letzte Premiere in der Wiener Staatsoper sowie mit Peter und der Wolf ein Kinderstück für die neue Spielstätte NEST kreieren.

AdP Kreation heißt für das Publikum, zu erleben, wo der Tanz heute steht, was gegenwärtige Künstler umtreibt. Was bedeutet Kreation für die Tänzer*innen eines Ensembles?

MS In einem kreativen Prozess ist das Terrain für die Tänzer*innen nicht von vorneherein definiert. Es steht ein Choreograph oder eine Choreographin vor ihnen und es braucht den Mut, in etwas hineinzugehen, ohne schon vorher zu wissen, wie es wird. Kreation ist eine Grundvoraussetzung, dass die darstellenden Künste am Leben und relevant für unsere Gesellschaft bleiben. Dabei geht es nicht nur um die Frage, wie unser Repertoire von heute und morgen aussehen wird, sondern auch um die Tänzer*innen. Wenn diese nur nachtanzen, was bereits existiert, verkümmert die Imaginationskraft. Damit meine ich natürlich nicht, dass eine Odette und ein Prinz Siegfried in einem Tänzer nicht etwas künstlerisch ausformen. Und natürlich ist es essentiell für eine Ballettcompagnie, sich auch damit auseinanderzusetzen. Viele wirklich große Tanzereignisse sind aber als Kreationen zwischen Choreograph und Tänzer entstanden – und dass dies nicht abreißt, dafür haben wir eine Verantwortung, gerade in einer Zeit, in der immer weniger Choreograph*innen an der Spitze von Ballettcompagnien stehen und künstlerisch wie tanztechnisch eine eigene Haltung zeigen wie es von George Balanchine über John Cranko, Merce Cunningham hin zu John Neumeier, Hans van Manen, Pina Bausch – um nur einige Beispiele zu nennen – Standard war. Derzeit sehen wir überall die gleichen Namen aufpoppen. Das ist natürlich nicht schlimm, denn jedes Land, jeder Ort hat sein eigenes Publikum, und für dieses wie die Tänzer*innen ist es allemal toll. Doch international gesehen gleicht sich das Repertoire immer mehr an, weil überall dieselben »heißen« Stücke eingekauft werden. Mich hat es nie interessiert, das zu zeigen, was gerade alle machen, sondern ich wollte meinen Ensembles ein eigenes Profil, einen unverwechselbaren Charakter geben. Auch im Tanzerbe gibt es so vieles zu entdecken. Ich habe früher Kurt Jooss gezeigt, Anthony Tudor, Martha Graham. Ich bin mit Hans van Manen einen über 30-jährigen Weg gegangen – auch zu einer Zeit, als er von den Spielplänen außerhalb der Niederlande fast verschwunden war. Balanchine war immer eine wichtige Säule. Für mich sollte sich ein Spielplan als Netz an Beziehungen entfalten – nicht vordergründig, aber für die lesbar, die daran interessiert sind. Und zugleich soll man sich einfach einen schönen, interessanten, berührenden oder aufwühlenden Abend mit uns machen können.

AdP Auch in Wien hast du eine ganze Reihe an Choreograph*innen gezeigt, die noch nie mit dem Staatsballett zu sehen waren.

MS Ich habe Alexei Ratmansky dreimal nach Wien geholt, wir konnten – neben Konstanten wie Nurejew, Balanchine, Robbins, van Manen, Cranko, Forsythe – Lucinda Childs, Karole Armitage, Ohad Naharin und Anne Teresa De Keersmaeker verpflichten, haben mit Merce Cunningham, Paul Taylor und Mark Morris den Spielplan um zentrale Positionen des amerikanischen Tanzes erweitert, mit Uwe Scholz, Heinz Spoerli und natürlich John Neumeier auf das europäische Ballett der letzten Jahrzehnte geschaut. Wir müssen auch dieses Erbe pflegen, gerade in einer Kunstform, die es so schwer mit ihrer Historie, den Fragen nach Original, Tradierung und Verankerung hat, weil sie im Moment lebt und mit dem Körper spricht. Geht das alles verloren, ist es nicht nur die Vergangenheit unserer Kunst, die verloren ist, sondern es ist unsere Sprache, die immer mehr verarmt, eindimensionaler wird. Dass man das, was war, und das, was ist und sein wird – also Kreation –, nicht gegeneinander ausspielt, sondern gleichzeitig pflegt, halte ich für wesentlich.

AdP Diese Gedanken spiegeln sich auch in der Besetzung des Ensembles, in der du eigene Akzente gesetzt hast – und dafür in Wien auch kritisiert wurdest: das Ensemble sei nicht mehr homogen genug, um z.B. einen von Rudolf Nurjew Schwanensee zu tanzen. Was denkst du darüber?

MS Schauen wir uns doch an, was Nurejew nicht nur als Tänzer für ein Rebell war, sondern wen er als Direktor des Balletts der Pariser Oper alles geholt, wen er mit neuen Werken beauftragt hat! Er hat etwas aufgerissen. Darüber sollten wir sprechen. Stattdessen wird Nurejew von vielen in eine eindimensionale Richtung verklärt. Natürlich braucht es eine gewisse Zeit, wenn man ein Repertoire erneuert oder besser gesagt aufmischt – ich habe ja viele Werke weiterhin gepflegt und gezeigt –, und man vergesse bitte nicht, dass unsere Arbeit durch die Pandemie über zwei Spielzeiten auf krasse Weise gestoppt wurde. Manches mag auf kürzere Sicht erst einmal gelitten haben. Würde ich in Wien bleiben, wäre eine solche Kritik in zwei bis drei Jahren sicher kein Thema mehr. Natürlich muss ein Corps de ballet im Einklang sein. Daran arbeiten wir jeden Tag. Und ich würde einen Schwanensee, eine Symphony in C nicht ansetzen, wenn mich das nicht interessieren würde. Nichtsdestotrotz erstaunt es mich, dass all das andere, was wir aufgebaut haben, für manche nicht zählt. Wir zeigen grandiose Dinge und das Publikum liebt sie, spürt, dass sich hier etwas bewegt, verändert, lebendig ist. Was ist mit der Uraufführung von Marco Goecke zu Gustav Mahler? War es nicht einmalig, Anne Teresa De Keersmaeker im Verbund mit Cunningham und van Manen in einem Programm zu zeigen, diese drei Handschriften nebeneinander von einem Wiener Staatsballett getanzt zu sehen? Wo gibt es das sonst? Das hat für mich auch ein großes Gewicht. Man kann ein Ensemble auch in einer bestimmten Schneise einfrieren, stilistisch und tanztechnisch mehr oder weniger beim Gleichen bleiben, um das Ziel absoluter Homogenität zu erfüllen. Aber geht es wirklich ausschließlich darum? Heute, in unserer so vielfältigen Gesellschaft? Für eine solche Programmierung hat man mich nicht nach Wien geholt.

AdP Was ist dir wichtig an einem Tänzer, einer Tänzerin?

MS Ich mag Typen, ich mag die Menschen. Ein interessanter Tänzer ist für mich einer, der imaginiert, der denkt, bei dem ich nachvollziehen kann, was eine Bewegung bedeutet, was er mit ihr sagen will. Das ist nicht selbstverständlich und ein Aspekt, der durchs Kreieren trainiert wird. Marcia Haydée war eine hochbegabte Tänzerin, aber erst in der Arbeit mit Cranko hat sie die großen klassischen Rollen auch darstellerisch zu füllen gelernt. Wir müssen lernen, unsere Sprache durch die Schritte und Bewegungen zu sprechen – und das ist genauso notwendig für den klassischen Tanz. Auch dieser ist ja nicht nur Form. Auch eine Pirouette muss gefüllt sein.

AdP In der ersten Premiere in der Wiener Staatsoper zeigst du Christopher Wheeldons The Winter’s Tale – eines der großen Handlungsballette der jüngsten Vergangenheit.

MS The Winter’s Tale wurde 2014 beim Royal Ballet London uraufgeführt und hat sowohl für die Choreographie als auch für die Komposition wichtige Preise gewonnen. Wir präsentieren die österreichische Erstaufführung und konnten das American Ballet Theatre in New York als Kooperationspartner gewinnen, das das Werk als USA Premiere an der Westküste und an der MET herausbringen wird. Wheeldon ist ein charismatischer Künstler und großartiger Choreograph, der nicht nur für Ballettcompagnien, sondern auch für den Broadway kreiert. Seine Arbeit hat eine faszinierende Leichtigkeit, aber trotzdem haben seine Charaktere eine große und berührende Tiefe. Im Moment gibt es wenige, die Handlungsballette auf diesem Niveau choreographieren und auch in ihrer sehr komplexen und aufwendigen Bühnenausstattung ist die Produktion ganz auf der Höhe unserer Zeit. Die Handlung basiert auf Shakespeares Wintermärchen, also einem Stoff, der nicht schon hundert Mal auf der Tanzbühne erzählt wurde. Wheeldon hat eine eigene Partitur bei dem Komponisten Joby Talbot in Auftrag gegeben und das Stück hat wunderbare Rollen, die große Erfahrung in der Darstellung verlangen. Ich denke, dass wir die Künstler*innen im Ensemble haben, die das füllen können, die ich aber mit einem solchen Werk auch neu fordere.

AdP Für eine Uraufführung in der zweiten Staatsopern-Premiere setzt du dich mit Tschaikowskis letzter Symphonie, der sogenannten Pathétique auseinander.

MS Es ist so großartige Musik und in allem auch Tanzmusik! Auch in seinen Symphonien spürt man, wie sehr der Tanz ein Teil von Tschaikowskis Kunst ist. Die Sechste reißt eine ganze Welt auf: Der 1. Satz ist hochkomplex, sehr dramatisch, wie Naturkräfte, die aufeinanderprallen. Der Walzer suggeriert auf den ersten Blick so eine Pseudobeschwingtheit – und ist doch alles andere als das. Der 3. Satz hat diese ungemeine Schärfe – und dann folgt dieses trunkene, hochmelancholische Finale. Natürlich darf man dieser Musik nicht erliegen, ich frage mich aber, wieso so viele Choreographen so formal zu Tschaikowski kreieren. Mein Ballett wird sicher sehr körperlich. Ich möchte Menschen von heute zeigen. Und das Orchester der Wiener Staatsoper wird das herrlich spielen.

AdP Wie gehst du an Prokofjews Peter und der Wolf heran – ein Stück für Kinder ab 6 im NEST?

MS Interessanterweise habe ich gar nicht das Gefühl, dass das etwas anderes als jedes andere Ballett für mich ist. Peter und der Wolf ist brillant gebaut und für den Tanz eröffnen sich schöne Räume. Wir schauen uns die Figuren sehr genau an. Wie kann man einen Wolf darstellen? Ist er nur der Feind oder kann er auch etwas sehr Schönes, Nobles, Verwunschenes haben? Etwas Archaisches, Dunkles? Wir werden ihn sicher nicht am Schwanz fangen. Und muss er wirklich in den Zoo?
 

AdP Was ist dein Eindruck von der neuen Spielstätte?

MS Es ist großartig, nun solch einen Raum für die Wiener Staatsoper zu haben. Diese Modernität, diese völlige Konzentration, die er ausstrahlt. Ich finde es total schön, in diesem Raum anders denken zu können, anders ans Publikum heranzukommen …

AdP ... etwas, das dir grundsätzlich wichtig ist.

MS Ja, auf jeden Fall. Wir sind in dieser grandiosen Staatsoper ja irgendwie auch verschanzt. Das aufzubrechen ist uns, denke ich, gelungen. Wir haben im Publikum eine wunderbare Durchmischung durch die Generationen, auch viele junge Menschen besuchen unsere Vorstellungen. Die Einführungen, Podiumsdiskussionen und DANCE MOVIES sind sehr gut besucht, es findet ein schöner Austausch statt, kommt zu direkten Begegnungen, Kontakten, Bindungen. Die Open Class, mit der wir jeden Samstag externen Tänzer*innen, aber auch interessierten Laien und Studierenden ein klassisches Balletttraining anbieten, ist nicht nur immer ausverkauft, sondern hat sich zu einem wirklich inspirierenden Ort entwickelt, wo wir spüren, um was es geht. Aber auch unseren Freundeskreis Wiener Staatsballett möchte ich in diesem Kontext erwähnen, den wir neu aufgestellt haben und der inzwischen ein sehr lebendiges Gegenüber und in finanzieller wie ideeller Hinsicht ein wichtiger Partner für uns geworden ist und mehr: er ist mit all den Veranstaltungen, die wir unseren Freunden exklusiv anbieten, auch Teil unserer Programmierung. Ich denke, dass hier etwas sehr schönes entstanden ist. Es kommt uns ein großes Interesse, aber auch Dankbarkeit entgegen. Und zugleich gibt es noch sehr viel zu tun!