Interview mit den Regisseuren von »Il ritorno d'Ulisse in patria«

Saison 2022/2023 |

Im Interview erklären Sergio Morabito und Jossi Wieler ihre Bühneninterpretation des antiken Stoffs, die menschliche Fragilität und Widersprüche.

Die Odyssee ist Teil des Mythenschatzes der Menschheit. Inwieweit liest man als Regieteam diesen Mythos zusammen mit dem, was Monteverdi und sein Librettist Badoaro in Il ritorno d’Ulisse in patria geschaffen haben?

SERGIO MORABITO Mythos ist kein ungebrochen positiver Begriff. Wir leben nach wie vor in mythischen Zeiten, in denen unsere menschliche Zerbrechlichkeit irrationalen Mächten und Gewalten ausgesetzt ist. Mythen auf unsere heutigen Erfahrungen hin transparent zu machen, verstehen wir als zentrales Movens unserer Theaterarbeit. Nicht anders als die antiken Tragiker, die allgemein bekannte mythische Erzählzusammenhänge auf die Bühne brachten, um sie zu de-sakralisieren und auf die eigene Gegenwart und deren Nöte und Konflikte transparent zu machen. Es geht also darum, in den kulturell tradierten Mythen unsere Ängste, Nöte, Schmerzen, Hoffnungen zu reflektieren.

 

JOSSI WIELER Monteverdi und Badoaro wählen für diese Oper bereits eine ganz eigene Perspektive auf das überlieferte Heldenepos, die unsere Aufmerksamkeit auf die menschliche Zerbrechlichkeit lenkt. Der der Handlung vorangestellte Prolog leitet eine Handlung ein, in der alle Charaktere – seien sie nun Menschen oder Götter – brüchig und mit großen Fragezeichen versehen sind. Natürlich behält man bei der Arbeit die Homer’sche Erzählung im Hinterkopf, das geht gar nicht anders, aber entscheidend ist, dass diese in der Oper nicht einfach nacherzählt, sondern auf ihre Widersprüche und ihr Schmerzpotenzial hin abgeklopft wird. Wir dürfen nicht den Fehler begehen, das uns bekannte mythische Geschehen vom bekannten Ergebnis, also sozusagen »von hinten aus« zu verstehen, sondern wir müssen die ständigen Risse und Brüche in der vermeintlichen Kontinuität dieses Geschehens registrieren.

Die Oper heißt: Il ritorno d’Ulisse in patria – auf dem Wort »ritorno« scheint ein besonderer Fokus zu liegen. Warum dieser komplexe Titel, warum nicht nur »Ulisse«?

JW Es ist schon sehr auffallend: Da wird eine gar nicht so kurze Oper geschrieben, in der es um nichts anderes geht als um den Moment der Rückkehr der Titelfigur und ihrer Wiederbegegnung mit der Gattin Penelope. Nicht die vergangenen 20 Jahre, die sein überliefertes Heldentum begründet haben, sind das Thema, sondern ausschließlich der allerletzte innere Schritt, den er noch gehen muss, nachdem er äußerlich bereits zu Beginn in seiner Heimat angekommen ist. Wer ist Ulisse an diesem Punkt seines Lebens? In den 20 Jahren seiner Abwesenheit – zehn Jahre Krieg, zehn Jahre Irrfahrt – hat er sich nicht nur altersmäßig verändert, sondern auch durch das, was er getan, geleistet und verbrochen hat. Seine Irrfahrt, aber auch sein Nichterkennen der Heimat am Beginn der Oper ist in einem existenziellen Sinn zu verstehen. Physisch mag er in Ithaka gelandet sein, aber sein Selbst ist ihm fremd und unbegreiflich geworden. Die Heimat ist gewissermaßen der Spiegel, in der er die Differenz zu sich selber wahrnimmt. Darum zögert er etwa nach seiner Begegnung mit seinem Sohn Telemaco, mit ihm gemeinsam Penelope aufzusuchen, was die humanste und naheliegendste Reaktion wäre. Ein Psychologe würde hier wohl von Schuldgefühlen sprechen, die ihn davon abhalten.

SM Diese Nichtidentität des Ulisse wird auch Penelope bis zum Finale des Stückes umtreiben. Bei Homer ist sie fast eine Randfigur, in der Oper erscheint sie deutlich aufgewertet. Ihr Klagemonolog am Beginn des ersten Aktes markiert gleich einen ersten Höhepunkt. Wir erleben eine im Inneren zutiefst verletzte und traumatisierte Frau, die die lange Abwesenheit Ulisses als Liebesverrat empfindet. Penelope verweigert sich den Freiern, weil sie nicht noch einmal eine vergleichbare seelische Verletzung erfahren möchte. Das zeigt auch die Größe einer Liebe, die nicht vernarben kann. Auch deshalb braucht sie so lange, bis sie den Heimgekehrten, der ein anderer geworden ist, als der, den sie einst geliebt hat, als ihren Mann anerkennt.

JW Anerkennt ist das wichtige Wort: Dass es sich um Ulisse handelt, erkennt sie in Wahrheit auf den ersten Blick. Als er dann unter ihren Freiern ein Blutbad anrichtet, wird sie Zeugin seiner kriegerischen Verrohung und Brutalität. Die Entfremdung der beiden wird entsprechend differenziert auch musikalisch bis in kleinste Verästelungen ausformuliert.
 

Haben wir am Ende der Oper nun ein Happy End vor uns?

JW Ich glaube, dieses Werk ist zu vielschichtig, um es auf einen eindeutigen Nenner herunterzubrechen. Ich würde lieber von einem offenen Ende sprechen. Ein Zurück zur ursprünglichen Beziehung ist unmöglich, aber vielleicht eine neue Form der Annäherung – denn man kann aus ihren Körpern und Seelen nicht all die Morde und Traumatisierungen herausoperieren. Vielleicht werden sie auf andere Art glücklich werden.

Die Opernhandlung weist zahlreiche Ortswechsel auf. Wie sind Sie mit dieser szenischen Herausforderung umgegangen?

SM Es ist sogar noch komplexer: Zu den Ortswechseln kommt hinzu, dass vieles in der Handlung simultan passiert. Die großen Monologe von Ulisse und Penelope werden zwar hintereinander gezeigt, aber in Wahrheit ereignen sie sich gleichzeitig. Wir erleben also eine lange Strecke des Stückes hindurch die beiden Paralleluniversen der Ehepartner in einer Art Zusammenschau, in der sie sich erst allmählich bis zur wechselseitigen Wahrnehmung aufeinander zubewegen.

JW Ebenso wenig wie bei Shakespeare kann es darum gehen, jede Lokalisation nachzubauen und zu dekorieren. Anna Viebrock hat – unter anderem inspiriert von einer Kunstinstallationen Martin Kippenbergers – ein Bühnenbild geschaffen, auf dem in ihrem Erscheinungsbild stark fragmentierte und reduzierte Objekte versammelt sind. Das alles ist auf eine Drehbühne gestellt, die immer neue Konstellationen ermöglicht.

SM Dadurch verlieren wir die einzelnen Handlungspunkte nie aus dem Blick. Man sieht, was sich parallel entwickelt und auflädt, nicht zuletzt sind Ulisse und Penelope bereits simultan anwesend, auch wenn sie einander noch gar nicht begegnet sind.

 

Das zentrale Element dieses Bühnenbildes ist der aus dem Epos bekannte Webstuhl der Penelope. Weshalb wird genau dieses Detail so markant und sichtbar aufgegriffen?

SM Der große Webstuhl symbolisiert einerseits die Welt von Ithaka, andererseits zeigt er, wie Penelope ihren Schmerz in einen kreativen Schaffensprozess zu transformieren versucht – ohne sich ganz von ihm befreien zu können.

JW Durch seine zentrale Lage auf der Achse der Drehbühne markiert der Webstuhl zudem das Innere eines Labyrinths, zu dem Ulisse, der aus seinem Seelengefängnis nicht herausfindet, vordringen möchte. Der Webstuhl ist also auch das Symbol der Suche nach der eignen Identität.

 

Die Welt der Götter bildet eine eigene Ebene in diesem Werk. Insbesondere Minerva nimmt entscheidenden Einfluss auf die Geschehnisse. Wer oder was sind die Götter in dieser Produktion?

JW Unsere konzeptuellen Überlegungen gehen davon aus, dass die abgehobenen Götter, die in Fliegersitzen der Business Class unterwegs sind, ihre angestammte Macht verloren haben und danach trachten, diese zurückzugewinnen. Ulisse wird für dieses Vorhaben gewissermaßen missbraucht und gefügig gemacht – ganz besonders von Minerva.

SM Positiv gelesen, kann die Gestalt des Ulisse auch als Aufklärer verstanden werden, der die überkommenen Grenzen der Heimat überschritten und sich in unbekannte Welten hinausgewagt hat. Doch letztlich gelingt es den Göttern, diese Entwicklung umzudrehen, und die Menschen erneut ihrer Macht zu unterwerfen. Ein Phänomen, das wir im übertragenen Sinn heute wieder erleben, wenn autokratische Systeme und Gewalten sich selbst sakralisieren.

JW Man könnte Il ritorno d’Ulisse in patria auf den ersten Blick als einfache Heimkehrer-Oper deuten. Das so zentrale Thema der menschlichen Fragilität und jenes der antiaufklärerischen Kräfte verraten aber, dass wir es mit einem deutlich vielschichtigeren Werk zu tun haben.

© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn