Im Sommerrausch
Ballett |

Der Malersaal in den Werkstätten von Art for Art im Wiener Arsenal ist von einem Leuchten erfüllt: Die Hälfte der Fläche der gigantischen Halle bedeckt die Nachschöpfung eines Kunstwerks von Robert Rauschenberg. Dieser hatte 1958 die in Tausenden von farbigen Punkten flirrende Sommerlandschaft entworfen – ein Rausch an Farben, der auf eine gigantische Leinwand gesprüht die Atmosphäre jener Choreographie kongenial unterstreicht, die ab dem 9. April im Rahmen der Wiener Staatsballett-Premiere Pathétique zu sehen ist: Merce Cunninghams Summerspace.
Das Stück für sechs Tänzerinnen und Tänzer zu einer Komposition von Morton Feldman zählt zu den herausragenden Zeugnissen einer Kollaboration, die Rauschenberg als »die seltene Erfahrung« bezeichnete, mit »außergewöhnlichen Menschen unter einzigartigen Bedingungen und an völlig unvorhersehbaren Orten zu arbeiten (alles akzeptabel aufgrund des gegenseitigen zwanghaften Wunsches, etwas zu schaffen und miteinander zu teilen)«. Die Arbeitsweise, welche die Künstler verband, war inspiriert durch die vor allem von John Cage – ebenfalls Partner Cunninghams und das nicht nur in der Kunst, sondern auch im Leben – entwickelte Aleatorik mit ihren dem Zufall folgenden Prinzipen. Im Zufall sahen Cage und Cunningham die Möglichkeit, anstelle des Künstleregos eine Haltung der Neutralität zu kultivieren und starke, unabhängige Partner für Werke zu gewinnen, die sich nicht durch das gemeinsame Durchleben kreativer Prozesse auszeichneten, sondern durch die Freiheit völliger Unabhängigkeit. Alles, was – räumlich getrennt voneinander – entstand, floss in das Werk ein. Nicht die Kraft musikalischer Inspiration war es, die Cunninghams Tänzerinnen und Tänzer in Bewegung brachte, sondern der Akt einer völligen Befreiung von Feldmans Komposition. Und auch Rauschenberg lieferte Cunningham nur einen Gedanken für ein Bühnendesign: »Eines kann ich mit Bestimmtheit über das Stück sagen, es hat kein Zentrum.«

Wie es dazu kam, dass im Fall von Summerspace bei der Premiere am 17. August 1958 im Rahmen des American Dance Festival am Connecticut College New London dann alles wunderbar zusammenpasste – die luftigen, mit ihren Sprüngen und Drehungen an Vogelflüge erinnernden Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer im Raum, die fast beiläufig hingetupften Klänge Feldmans und die pointillistische Landschaft, die Rauschenberg, an den Effekt einer Camouflage denkend, auch auf die Kostüme übertrug –, bleibt das Geheimnis der Kunst und ihrer Künstler.
Heute zählt Summerspace zu jenen Werken aus der so fruchtbaren Zeit der New Yorker Avantgarde der 1950er Jahre, die im Tanzkanon des 20. Jahrhunderts ihren festen Platz haben. Nicht nur im Repertoire der Cunningham Dance Company war das Werk regelmäßig zu erleben, sondern auch in Einstudierungen vieler renommierter Compagnien weltweit. In deren Reihe ist nun auch das Wiener Staatsballett aufgenommen, das – nach der Premiere von Cunninghams Duets 2022 in der Volksoper Wien – mit Summerspace erstmals ein Werk des Choreographen in der Wiener Staatsoper zeigt. Ein großes Thema dieser Wiedereinstudierung ist neben dem Studium der speziellen Cunningham-Technik und dem Erlernen der Choreographie durch die Tänzerinnen und Tänzer auch die Reproduktion von Rauschenbergs Design – eine nicht alltägliche Aufgabe für den für Art for Art tätigen Domenico Mühle.

Der an der Berufsschule für Gestaltung Zürich und der Universität für angewandte Kunst Wien ausgebildete Schweizer, der freiberuflich auch als Bildender Künstler tätig ist und seine Werke in Ausstellungen zeigt, zählt zu den ganz besonderen Meistern unter den Theatermalern – eine Fachrichtung voller besonderer Herausforderungen, bestehen die Aufgaben doch nicht nur darin, Designs verschiedenster Stile für die Bühnen der Bundestheater auf oft riesigen Flächen umzusetzen, sondern sich stets auch Gedanken zu machen, welche Farben, welche Auftragstechnik und welche Farb-Intensitäten und -Dichten nötig sind, damit ein Prospekt oder eine bemalte Wand im künstlichen Theaterlicht so wirkt, wie es sich der Bühnenbildner vorgestellt hat.
Auch für die Nachschöpfung von Rauschenbergs Summerspace waren von Domenico Mühle zunächst Kreativität und Recherchen gefordert: Welche der im Umlauf befindlichen Vorlagen kommen dem ursprünglichen Entwurf Rauschenbergs am nächsten? Welche Farben sind zu verwenden? Wie behält der pointillistische Farbrausch den seriellen Charakter eines aus Tausenden von Punkten zusammengesetzten Bilds und zeigt trotzdem eine Dynamik?

Das im New Yorker Walker Arts Center befindliche Original Rauschenbergs sowie vom Merce Cunningham Trust zur Verfügung gestellte Vorlagen dienten Mühle als Orientierung für die Umsetzung des Entwurfs, für die er eine 3 x 3 Meter große Schablone mit gestanzten Perforierungen in zwei Größen entwickelte. Schaut man ihm dabei zu, wie er die vorgegebenen fluoreszierenden Tagesleuchtfarben mit einem sogenannten »Luftpinsel« – einer speziellen Spritzpistole – Schicht für Schicht auf die riesige Leinwand von 20 Meter Breite und 12,50 Meter Höhe aufträgt, so ist bereits dieser malerische Akt eine Choreographie. Nach etwa vier Wochen intensiver Arbeit, schätzt Domenico Mühle, wird dieser »Sommerrausch« die Werkstätten von Art for Art verlassen und erstmals seinen Zauber auf der Bühne der Wiener Staatsoper entfalten. »Für mich war es eine sehr besondere Erfahrung, mich mit meiner Theatermalerei so intensiv in den Geist eines Künstlers wie Robert Rauschenberg hineinversetzen zu dürfen«, verrät er mit leuchtenden Augen.
Mit Summerspace kommt eines der schönsten und lichtesten Zeugnisse der Zusammenarbeit Rauschenbergs und Cunninghams auf die Bühne der Wiener Staatsoper. Zugleich ist Summerspace aber nur ein Aspekt dieser über zwanzig gemeinsame Projekte umfassenden Verbindung. Durch die Freiheit der Zusammenarbeit spiegelt sich in Rauschenbergs Bühnendesigns immer auch seine zeitgleiche rein künstlerische Arbeit wider. So verwendete er für Cunninghams Minutiae (1954) seine sogenannten »Combines«, in denen er die Flächigkeit der Malerei mit der Dreidimensionalität von Skulpturen collagierte. In Aeon (1961) zeigt sich in der Verbindung einer kinetischen Maschine aus Altmetall im Zusammenspiel mit Stroboskoplicht sein Interesse für die Beziehungen zwischen Kunst und Technologie. Das monumentale Bühnenbild für Cunninghams und Cages Travelogue (1977) mit dem Titel Tantric Geography erinnert mit seiner Reihe von Stühlen, einem Fahrradrad und bunten Seidenfächern an die wiederkehrenden Farbräder in Rauschenbergs Œuvre und seine Jammer-Serie (1975/76). Am 22. Oktober 2025 wäre Robert Rauschenberg hundert Jahre alt geworden.
»Als ich mit Bob Rauschenberg über die Ausstattung sprach, sagte ich: ›Eines kann ich mit Bestimmtheit über das Stück sagen, es hat kein Zentrum ...‹. Und so gestaltete er einen pointillistischen Hintergrund und ebensolche Kostüme.«