Im Herzen des Theaters
Saison 2024/2025 |
Fangen wir mit einer einfachen Frage an: Was ist Nesterval?
Martin Finnland Das ist die wahrscheinlich schwierigste Frage! Weil man uns erlebt haben muss, um das Konzept als Ganzes zu verstehen. Wir machen immersives Theater; das bedeutet, dass das Publikum nicht im Dunkeln vor uns sitzt, sondern mittendrin ist. Die Leute stehen direkt neben uns und sind Teil des Abends, wandern mit uns durch unterschiedliche Räume. Wir sind also ein Theater ohne Bühne, ein Theater, das ganze Gebäude bespielt – und das parallel an mehreren Spielorten. Man kann also einer Darstellerin einen Abend lang folgen oder aber sich nach Lust und Laune unterschiedliche Szenen mit wechselnden Darstellern aussuchen. Daraus ergibt sich, dass man bei mehreren Besuchen immer andere, neue Versionen der Grundhandlung erlebt.
Theaterbesucherinnen haben einen solchen ähnlichen Zugang in den Arbeiten von Paulus Manker vielleicht schon erlebt. In dem Sinne, dass man sich seine eigene Geschichte bauen kann und sich zwischen den Darstellenden befindet, ohne definierte Bühne und ohne Zuschauerraum. Wodurch unterscheiden sich die Spielweisen?
Es gibt einen grundlegenden Unterschied. Wir sehen das Publikum und nehmen es wahr. Es wird »angespielt«. Und damit haben wir, glaube ich, ein absolutes Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen Theaterformen. Wir können die Menschen im Raum einbinden, wenn die Situation passt. Wir spüren Nuancen und reagieren darauf. Natürlich gibt es ein Regiebuch und einen Handlungsfaden, aber dem sind wir nicht dogmatisch ausgeliefert. Wenn ich merke, dass mein Gegenüber berührt ist, plötzlich in Tränen ausbricht, dann breche ich aus dem Textkonstrukt aus und gehe auf die Person ein. Wir erleben solche intensiven, persönlichen Szenen übrigens immer wieder. Dass eine Zuschauerin, ein Zuschauer sich plötzlich öffnet und vor allen Anwesenden aus dem eigenen Leben zu erzählen beginnt.
Erleben Sie auch das Gegenteil? Dass sich jemand einfach gegen das Mitmachen sträubt?
Um ehrlich zu sein: Ja, natürlich. Schließlich haben wir nicht die eierlegende Theater-Wollmilchsau erfunden. Es gibt also immer den einen oder die andere, der oder die unser Konzept nicht mag oder nicht eingebunden werden will. Wobei wir jahrelang eingeübt haben, welche Gäste angespielt werden – und welche nicht. Wir binden nämlich nur jene ein, die es auch wollen. Wer das jeweils ist, das spürt man im Bauch und merkt es auch am Verhalten des Gegenübers. Also: Einerseits geht es darum, das Publikum zu fordern und herauszufordern, das macht ja auch den Spaß an der Sache aus. Andererseits werden wir niemanden vorführen oder gegen seinen oder ihren Willen einbinden. Ich selbst habe ein großes Mitmachtrauma aus meiner Kindheit: Eine meiner schlimmsten Erfahrungen war, als ich als Kind im Zirkus vom Clown in die Manege gerufen wurde. Ich stand da, absolut gegen meinen Willen – und habe es gehasst. Daher werde ich das niemandem antun. Jede und jeder kann bei uns sagen: Sorry, aber ich will gerade nicht!
Ihr neues Projekt basiert auf Wagners Götterdämmerung. Wie kamen Sie auf dieses Werk?
Es gibt eine umfangreiche Sammlung an Themen, Ideen und Projekten, die ich verwirklichen will. Ein Opernstoff stand seit Langem auf der Liste. Als die Staatsoper anrief und fragte, ob wir nicht in der neuen Spielstätte spielen könnten, war mir schnell klar, dass es um die Götterdämmerung gehen muss. Die Alternativen waren übrigens Mozarts Zauberflöte und Peter Grimes von Benjamin Britten. Letztlich war es aber eine Bauchentscheidung ohne viel Überlegung.
Wie viel vom originalen Text und von der Musik steckt in Ihrer Fassung?
Die Musik begleitet uns durchs ganze Stück. Natürlich nicht in der originalen Orchesterbesetzung, aber es gibt zentrale Themen, die immer hörbar sein werden und die durch das Haus klingen. Auch der Text enthält Abschnitte aus dem Libretto Wagners – natürlich aber auch sehr viel Neues von uns. Es ist ja nicht 1:1 die Opernhandlung, die man erlebt. Sondern ein Spiel mit dem Stoff und eine Adaption der Geschehnisse.
Ihre Götterdämmerung spielt nicht in der Vergangenheit, nicht in der Gegenwart, sondern in einer dystopischen Zukunft, in einer Welt, die um das Wasser kämpft. Sind bei Ihnen die Götter noch Götter? Ist Wotan – bei Ihnen eine Frau – eine Göttin? Oder ist sie z.B. eine Aufsichtsratspräsidentin einer global agierenden Firma?
Doch, doch! Die Göttinnen sind Göttinnen. Sie leben unter uns, manche machen in der Menschenwelt mit, andere haben sich zurückgezogen. Sie sind transzendentale Wesen und bleiben es auch.
Die neue Handlung spielt in der nahen Zukunft. Nach dem von Ihnen erdachten ersten Wiener Wasserkrieg. Man kämpft also um das knappe Gut Wasser. Welcher übergeordnete Gedanke, neben der naheliegenden Klimakrise, führt durch den Abend?
Es geht um die Erkenntnis, wie schnell eine Gemeinschaft zerfallen kann, wenn Ressourcen knapp werden, wie rasch mit der sozialen Nächstenliebe nicht mehr viel los ist. Der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft ist fragil, und wir haben es in Corona-Zeiten ja durchaus erlebt, wie schnell und entgegen besseren Wissens sich der Egoismus durchsetzt. Das fängt beim übermäßigen Horten des oft erwähnten Klopapiers an und reicht in viele essenzielle Bereiche unseres Lebens. Plötzlich ändert sich die Gesellschaft – und dabei haben wir einen echten, bedrohlichen Notfall ja noch gar nicht erlebt. Daraus ist das Gedankenexperiment entstanden: Was machen wir, wenn das Wasser knapp würde? Was, wenn Niederösterreich feststellte, dass das Wasser der Donau eigentlich ihm gehört? Und es erst einmal für seine Felder und Wiesen verwenden will? Wenn die Steiermark die Frage stellt, warum es so viel Quellwasser nach Wien fließen lässt? Uns geht es dabei nicht um das Wasser an sich, sondern um das Auseinanderbrechen der Zivilgesellschaft. Diese Geschichte wollen wir erzählen.
Wagners Götterdämmerung endet mit dem Brand der Götterburg Walhall und den Menschen, die ergriffen in die Flammen schauen. Ihnen obliegt es, nach dem Versagen der Götter die Welt besser zu gestalten. Eine Utopie, die Sie beflügelt?
In unserer Fassung sind wir schon einen Schritt weiter. Bei uns übergibt Erda die Welt den Menschen – und die Götter sollen sich nach Möglichkeit nicht einmischen. Die Menschen – das ist unser Publikum – aber müssen über den Fortgang der Welt entscheiden. Daher ist das Ende jeden Abend offen, weil wir nicht wissen, wie sich das Publikum positionieren wird. Aber weil Sie von Utopie sprachen: Ein Hoffnungsschimmer ist für mich immer vorhanden – das Symbol des Rings. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Die Geschichte erzählt sich immer neu und immer weiter.