Gounod und der Mythos von Faust: Musikalische Herausforderungen

Saison 2020/2021 |

In diesem Blogbeitrag möchten wir Ihnen Charles Gounods Oper »Faust« vorstellen, die auf Goethes berühmtem Werk basiert.

Der Mythos Faust

Kein namhafter deutscher Komponist des 19. Jahrhunderts hat es gewagt, Faust zu vertonen. Louis Spohr näherte sich diesem Mythos, aber ohne auf Goethe Bezug zu nehmen – den Faust ohne die philosophische Grundierung Goethes zu komponieren und nur als Liebesgeschichte herauszulösen: undenkbar! Das konnte nur jemand aus dem Ausland machen, und auch der nicht ungestraft, denn wenn wir die deutschsprachigen Rezensionen lesen, warf man Gounod bis weit ins 20. Jahrhundert vor, sich an dem »deutschen Meister« vergriffen zu haben. Gounod aber konnte nicht anders: Faust, das war sein Herzensprojekt, ein Traum. Schon als junger Träger des renommierten Prix de Rome saß er seinem eigenen Bericht zufolge auf Capri, blickte aufs Meer und erträumte sich die ersten Szenen der Oper. Das war 1840 – die Kompositionsgeschichte von Faust sollte dann – alles in allem – bis 1869 dauern. Fast ein halbes Leben.

Gounods Leidenschaft für Faust

Als Dirigent steht man immer vor der Frage nach der »richtigen« Fassung. Das ist bei Faust – trotz allem – gar nicht so schwierig zu entscheiden wie bei anderen Werken. Die erste Version kam 1859 mit gesprochenen Dialogen heraus (das war am Uraufführungshaus, dem Théâtre-Lyrique, so üblich). Es folgten Überarbeitungen, Einfügungen und Ergänzungen: Statt den Dialogen schrieb Gounod neue Rezitative (die ich in diesem Werk gegenüber den gesprochenen Texten bevorzuge, zumal sie vom Komponisten selbst stammen), Valentins Kavatine entstand für eine Londoner Aufführung und wurde fortan fester Bestandteil der Oper, was die Rolle enorm aufwertet; für die Pariser Opera fügte der Komponist das damals dort verpflichtende Ballett in die Walpurgisnacht ein – für sich genommen ein brillantes Stück, das aber, wie die meisten in Opern nachträglich eingefügten Ballette, die Handlung zu einem späten Zeitpunkt des Stückverlaufs unnötig verzögert und heute kaum mehr gespielt wird. Gounod machte das alles mit, teilweise gegen seine ursprünglichen Intentionen. War er deswegen ein Opportunist? Vielleicht. Ist das schlimm? Nein. Er wollte aufgeführt werden, wie alle Komponisten es wollen, gerade mit seinem Wunschprojekt Faust. Daher akzeptierte er das weit von Goethe entfernt liegende und mitunter oberflächliche Libretto ebenso wie Eingriffe von Intendanten und Sängern. Dennoch: Es wurde ein Meisterwerk! Man findet keinen falschen oder unnötigen Takt in dieser Oper.

Der dramatische Widerspruch in der Musik

Wie gerne würde ich Gounod aber trotzdem fragen, warum er sich dieses Libretto angetan hat? Ob ihm da nicht doch textliche Inhaltstiefe gefehlt hat? Vielleicht würde er antworten: »Was für eine Frage! Natürlich – aber das Drama finden Sie doch in der Musik ...!« Und so ist es ja auch: All das Dramatische und Tiefsinnige des Sujets liegt hier nicht im Text, sondern in der Komposition; Gounod beweist sich in Faust als ein Komponist, der die Seele von Goethes Opus Magnum nicht nur gekannt, sondern auch verstanden hat, und er schöpft, als Meister der Farb- und Stilmischung, seine Kraft aus – scheinbarer – stilistischer Widersprüchlichkeit. Nehmen wir nur als Beispiel den Gegensatz zwischen der Kirmes-Szene, bei der man denkt, dass Maurice Chevalier gleich aus der Gasse kommt, und der direkt folgenden Valentin-Arie: was für ein starker, belebender dramatischer Gegensatz! Denken wir an die großen Chöre, die uns in manchen Momenten an die typische Grand opera erinnern und die einen ungemeinen Farbenreichtum anbieten, und dann wieder die kleinen Chor-Ensembles oder den schlichten, ergreifenden A-cappella-Gesang des Chores nach dem Tod Valentins.

Dann wieder hören wir einen leichten Walzerrhythmus, mit dem Marguerite die Juwelen besingt, eine Arie, deren Wirkung auch dadurch verstärkt wird, dass sie unmittelbar zuvor das schlichte, historisch klingende, ihr offenbar zur routinierten Gewohnheit gewordene »Es war ein König in Thule«-Lied intoniert. Und schließlich die erlesene, schmerzliche Schönheit der Spinnrad-Musik, die von der Sängerin der Marguerite (die im 2. Akt noch ihre Koloraturbrillanz unter Beweis stellen muss) höchste Lied-Qualitäten abverlangt. Hier entdecken wir den genialen Dramaturgen Gounod: Es ist nämlich genau das in den Violinen in 32tel-Figuren schnurrende Spinnrad, das wir im ersten Akt bei Fausts Marguerite-Vision hören, dort allerdings mit einem Horn (das Méphistophélès-Instrument!) und der Harfe (als musikalisches Zeichen des verklärten Marguerite-Bildes) kombiniert: Im Rückblick verstehen wir dann auch, dass schon damals in der Vision, trotz des hellen E-Dur der Violinen, das tragische Ende mitschwang und die Geschichte gar nicht gut ausgehen kann. Eine besondere Herausforderung ist das Finale: Wenn sich Marguerites Partie höher und höher schraubt, wenn sie am Ende des Abends mit dramatischer Durchschlagskraft besticht, merkt man, wie sich diese Figur musikalisch – von der »alten Musik« des Thule-Liedes über die perlende Juwelenarie bis zum dramatischen, fast »wagnerisch« gesteigerten Finale – entwickelt. Das macht die Marguerite zu einer so außerordentlich herausfordernden Partie für jede Sängerin.

Charakterisierung der Figuren durch Instrumentation

Immer wieder erlebt man in Opern (wie zum Beispiel in La traviata), dass der Beginn musikalisch das Ende vorwegnimmt. Bei Faust ist es genau umgekehrt. In der Kerkerszene intoniert Marguerite eine Reminiszenz ihres ersten Treffens mit Faust, wobei sie nun beide Partien übernimmt. An dieser Stelle dünnt der Orchesterton immer stärker aus, das Klanggewebe wird filigran; und so wie Faust am Anfang alt war und dann jung wird, so erscheint mir Marguerite, die jung ist, an dieser Stelle plötzlich radikal gealtert, zerbrechlich, fast schon verklärt.

Ein schönes Beispiel für die Überkreuzung von zwei Zuständen, hier Groteske und Lyrik, ist die Gartenszene, genau in der Mitte der Oper, mit den Paaren Marguerite und Faust sowie Marthe und Méphistophélès. Die beiden Paare singen textlich Unterschiedliches, aber die Musik in den Quartettpassagen vereint sie. Doch die schöne musikalische Harmonie währt nicht lange, da Marthe immer wieder stört. Gounod benutzt diese Szene, um via Marthe eine besondere Farbe des Méphistophélès zu zeigen: eben die Groteske. Méphistophélès ist im Libretto kein dämonischer Nihilist, kein philosophischer Verführer, er hat keine Klasse, ist kein Arsene Lupin, sondern vielmehr: ein Taschenspieler, ein Teufel zweiter Kategorie – was übrigens in dieser Inszenierung sehr gut herausgearbeitet wird. Doch gemessen am Umfang und an der Herausforderung seiner Partie musste die Oper eigentlich nach ihm benannt sein: Er ist dauernd auf der Bühne und hat die Gelegenheit, sehr unterschiedliche Facetten zu zeigen. Im 1. Akt beginnt er mit einem fast leichtfüßigen Duett mit Faust, dann – geradezu bombastisch und für den Sänger äußerst attraktiv – im 2. Akt das Rondo vom goldenen Kalb (diese Nummer erinnert wiederum mehr an die Grand opera) und im dritten Akt besingt er traumhaft schön – aber zynisch! – die Nacht: Er darf lange, berückende Linien gestalten, eine Herausforderung, die nur jemand umsetzen kann, der auch den Liedgesang souverän beherrscht. In der Kirchenszene im 4. Akt erleben wir Bach‘sche Musik im romantischen Gewand – auch hier treffen Schönheit und Zynismus aufeinander. Seine Serenade erinnert ein wenig an Don Giovanni – da kann der Sänger wieder brillieren, bevor er im 5. Akt in der Kerkerszene noch einmal eine dramatische Charakterstudie abliefern darf. Dass Méphistophélès nicht nur in der Kirche auftreten darf, sondern Marguerite auch noch ihr Kind tötet, waren jene Handlungsaspekte, die eine Aufführung an der Pariser Opera sicherlich nicht erleichtert haben!

Die Balance zwischen Gut und Böse

Bei der Charakterisierung der Hauptfiguren folgt Gounod einer eigenen Instrumentations-Dramaturgie: So wie das Horn Méphistophélès als »sein« Instrument beigestellt wird, gehört das Cello zu Siebel – die Arie wirkt fast wie ein Schubert-Lied. Faust wiederum wird bei seiner berühmten Kavatine im 3. Akt (»Salut! Demeure chaste et pure«) von der Solo-Violine begleitet, an anderer Stelle spielt die solistische Klarinette eine wesentliche Rolle: Diese konzertierenden Instrumente des Orchesters verleihen dem Werk immer wieder eine sehr reizvolle kammermusikalische Intimität.

Schaut man auf die strengen musikalischen Formate, in die Gounod sein Werk eingekleidet hat, so wird das immer wieder augenscheinlich: Es ist geradezu klassisch, und doch auch ein völlig neuer Zugang zur Form! Man hat oft das Gefühl, dass Gounod das Orchester in den hinteren Raum stellt – um die Stimmen noch deutlicher zur Geltung zu bringen und die Interaktionen zwischen den Figuren in den Vordergrund zu rücken. Faust wird immer wieder mit lyrischen Passagen, schwebenden Melodien und Gedichtzeilen unterbrochen, während der Bassbariton Méphistophélès immer wieder mit seinen kurzen, prägnanten Beiträgen konfrontiert wird. Gounod lässt Faust zwischendurch kaum zu Wort kommen, so dass die Titelfigur in den Hintergrund rückt. Der Komponist verleiht Faust damit etwas Träges, das die innere Zerrissenheit des Charakters widerspiegelt, während Méphistophélès, der Freigeist, den das Böse anzieht, immer wieder aufbricht und sich von den Dingen lösen kann. Gounod dringt tief ins Seelenleben seiner Protagonisten ein, nicht durch das, was sie sagen, sondern durch das, was sie musikalisch unternehmen.

Hoffnung und Optimismus im Finale

Wenn wir nun aber auch den Pessimismus der Musik erlebten, müssen wir zurückblicken auf die großen Chöre und die strahlenden Arien – auf all die Farbtupfer, die Gounod im 1. und 2. Akt wunderbar hineinwebt. Gerade der 2. Akt, in dem sich die Handlungsstränge von Marguerite, Faust und Méphistophélès vereinen, zeigt den Komponisten als den Meister der Stimmungswechsel und der großen dramatischen Bögen. Und dann am Ende: dass die Oper, die ja mit einer Erlösung endet, in den klaren, hellen und jubelnden Klängen des Schlusschors mit einer so starken und gewaltigen Botschaft: Gounod schafft es, dem ganzen Stück und den Figuren ein hoffnungsvolles Ende zu geben. Was für ein Aufstieg! Was für ein grandioser Ausklang! Selbst die Klänge der Seelen werden für das Publikum so verstehbar.

Um also die eingangs gestellte Frage zu beantworten, warum Gounod für seine Faust ein solches Libretto wählte: Das große Menschheitsthema der Suche nach dem Sinn des Lebens lässt sich, so glaube ich, in die Brüche der menschlichen Beziehungen setzen. Man hört hier und dort Gounods Begeisterung für die Musik und den Literaturnobelpreisträger Goethe und erkennt, dass die Sehnsucht, die die Hauptfigur Faust umtreibt, letztlich die Sehnsucht des Menschen überhaupt ist. Wo Gounod aus dem dramatischen Text kaum Lyrik herauszieht, und das Drama vor allem in der Musik zu finden ist, entsteht eine musikalische Alltagsdichtung – aber dennoch mit der Frage: Wo bleibt die Hoffnung? Insofern kann ich Faust allen Generationen von Musikern, Sängern und Musikliebhabern nur ans Herz legen, gerade weil Gounods einzigartige, zuweilen melancholische, zuweilen drängende, und immer auch auf das Leben weisende Musik so trefflich das Menschsein beschreibt.