Franz Welser-Möst: Leidenschaft und Psychologie hinter »Elektra«

Saison 2020/2021 |

Franz Welser-Möst hebt eine Schlüsselszene aus »Elektra« hervor und thematisiert die Verknüpfung zur psychologischen Forschung von Sigmund Freud.

Hochpersönliche Momente in der Oper

In der Welt der Oper gibt es sie: die hochpersönlichen, kurzen Momente, die für Künstler zum besonderen Angelpunkt ihrer Arbeit werden. Diese Augenblicke eröffnen Interpretationswege und bieten besondere Kernaussagen über das jeweilige Werk. Im Folgenden werden wir die Ausführungen von Franz Welser-Möst zu seiner »besonderen Stelle« in Richard Strauss’ Elektra näher betrachten.

Der emotionale Kern von »Elektra«

Spricht man mit unterschiedlichen Menschen über Elektra, dreht sich das Gespräch oft um die Erkennungsszene zwischen Orest und der Titelheldin. Diese Passage zählt zu den berührendsten und stärksten der Opernliteratur. Für mich gibt es jedoch einen Moment, der noch direkter auf den Kern des Dramas und die Charakterstruktur Elektras Bezug nimmt.

Am Ende des Stücks fragt Chrysothemis, ob Elektra den Lärm über Orests Rückkehr höre. Elektra antwortet: »Ob ich die Musik nicht höre? Sie kommt doch aus mir!« Diese zentrale Stelle verdeutlicht, dass alles, was an diesem Abend geschieht, in Elektra entsteht, in ihrem Kopf. Hofmannsthal und Strauss bringen in dieser Passage die Essenz von Elektras obsessiver Liebe zu ihrem Vater und ihrer inneren Kraft zum Ausdruck, die seit der griechischen Antike für die Figur prägend ist.

Der dionysische Tanz der Elektra

Was aber ist nun dieser Tanz? Ist es pures Glück, Befreiung oder gar Entrückung? Bei genauerem Hinhören offenbart sich das Motiv des Schlachtopfers, das immer dominanter wird. Es beginnt in den Kontrabässen und Celli und ergreift schließlich das gesamte Orchester. Elektra wird zum Schlachtopfer ihrer eigenen zwanghaften Rache. Am Ende der Oper steht die Regiebemerkung »Elektra stürzt zusammen« – sie hat ihre einzige Sehnsucht, die Rache, erfüllt. Was bleibt ihr also noch, als zu sterben?

Der Mythos und die Freiheit der Musik

Dass Strauss in einem gleißenden C-Dur endet, beschreibt das musikalische Verglühen der Protagonistin. Die Sprachlosigkeit im finalen Tanz verweist darauf, dass dem Getanen nichts mehr hinzugefügt werden kann. Der Mythos erfordert keinen Logikverzicht – er ist der Traum eines Volkes. Musik, die nicht in Worte gefasst werden kann, spricht an dieser Stelle die Wahrheit.

Psychologische Tiefe und Hysterie

Die Nähe der Oper zu den bahnbrechenden Studien über Hysterie von Sigmund Freud und Josef Breuer, erstmals 1895 veröffentlicht, ist nicht nur offensichtlich, sondern zentral für das Werk. Elektra thematisiert die psychologischen Konflikte zwischen den Figuren und wird zu einem Psycho-Krimi. Die Intensität dieser Passage ist für die Inszenierung entscheidend. Ich würde die Oper in einem riesigen Kopf inszenieren, als Innensicht der Psyche Elektras.

Die Herausforderung für den Dirigenten

Inmitten dieser emotionalen Intensität stellt sich die Frage: Wie verhält sich ein Dirigent zum Rauschhaften? Distanziert er sich oder lässt er sich mitreißen? Der große Fritz Kortner sagte einst zu seinen Schauspielern: »Auf der Bühne müsst ihr nicht weinen – aber das Publikum.« Dies ist eine weise Erkenntnis, denn es ist unsere Aufgabe, das Publikum zu berühren, ohne unsere Funktion als Ausführende aus den Augen zu verlieren.

Die Balance zwischen den ekstatischen Momenten und dem Orchesterapparat ist entscheidend. Eine präzise Einhaltung der Form und das Setzen von Grenzen sind unerlässlich, um das Werk nicht im unkontrollierten Klang untergehen zu lassen. Elektra ist eine kräfteraubende Oper, auch für den Dirigenten. Kein Wunder, dass Karajan riet, sie mit 60 aus der Hand zu legen. Ich werde diesem Ratschlag folgen, wenn auch nicht ganz so früh, aber mit dem tröstlichen Wissen, dass die Erkenntnis, dass jedes Ding seine Zeit hat, zu einer höheren Konzentration auf den aktuellen Moment führt.