Einführung in »Dialogues des Carmélites«

Saison 2022/23 |

Dialogues des Carmélites - behandelt das historische Schicksal der Karmelitinnen von Compiègne während der Französischen Revolution.

Geschichte als Folie: Die Märtyrerinnen von Compiègne

Das historische Ereignis, das Poulenc als Hintergrund für seine Oper dient, ereignete sich in der späten Phase der jakobinischen Schreckensherrschaft in Frankreich: Am 17. Juli 1794 wurden sechzehn Nonnen des Karmel von Compiègne auf der Guillotine hingerichtet. Die Anklage lautete auf konterrevolutionäre Versammlungen und Konspiration, einschließlich der Unterstützung des bourbonischen Königshauses, dem der Karmelitinnenorden nahestand. Der Orden lebte zu dieser Zeit in rein kontemplativer Abgeschiedenheit, vollständig auf Gebet und Fürbitte konzentriert. Die Unruhen und revolutionären Gesetzesänderungen von 1789 ließen jedoch keinen Rückzugsort unangetastet.

Poulenc stellte sich in die Tradition vieler Künstler, die das historische Schicksal der sechzehn Märtyrerinnen als Folie nutzten, um über das individuelle Ringen um Glauben und Erlösung nachzudenken. Die Dialogues des Carmélites wurden für ihn zu einer musikalischen Verarbeitung, in der er die menschliche Existenz und spirituelle Suche seiner Protagonistinnen auslotete.

Dichtung und Dramatik: Die Vorlage der „Carmélites“

Die Dialogues des Carmélites basieren zum Großteil auf der Novelle Die Letzte am Schafott der deutschen Schriftstellerin Gertrud von Le Fort. Bernanos, der aus der Novelle ein Filmszenario und schließlich das Theaterstück schuf, fügte zahlreiche Details hinzu, behielt jedoch den schlichten Titel bei. Im Zentrum der Dialoge steht die psychische und spirituelle Unruhe im Kloster, die Notwendigkeit, Glauben, Überzeugungen und Ängste miteinander zu verhandeln. Das bestimmende Thema in den Gesprächen ist die Todesangst – ein Motiv, das Gertrud von Le Fort in ihrer Figur Blanche de la Force, einem Alter Ego, verarbeitet.

Blanche verkörpert die „Todesangst einer ganzen zu Ende gehenden Epoche“. Le Fort beschreibt sie als Verkörperung des kollektiven Schreckens, den die Ängste des aufkommenden Nationalsozialismus in ihr wachriefen, und als Sinnbild der „Gnade über die Todesangst“. Auch Bernanos, der an Tuberkulose litt, prägte seine Figuren durch seine eigene existenzielle Angst. Besonders die Sterbeszene der alten Priorin gestaltete er eindringlich, ein Moment, den Poulenc musikalisch tief bewegend ausformte.

Francis Poulenc – Mönch und Strolch

Der französische Kritiker Claude Rostand beschrieb Poulenc als „Moine et voyou“ – „Mönch und Strolch“ – eine Bezeichnung, die die Gegensätze in seinem Werk gut zusammenfasst. Als Mitglied der Groupe des Six stand Poulenc zunächst für experimentelle Leichtigkeit, inspiriert von Pariser Music Halls und Café-Concerts. Doch die ernste Seite des Komponisten drang später in seinen geistlichen Werken deutlich hervor. Dialogues des Carmélites bildet den Höhepunkt dieses Zusammenspiels zwischen spiritueller Tiefe und lebendigem Ausdruck.

Poulenc, der zahlreiche Gedichte von Apollinaire und Éluard vertonte, schuf mit Dialogues des Carmélites eine Oper, die ihre Kraft aus einer spirituellen Klangwelt und wiederkehrenden Motiven zieht, welche die inneren Kämpfe der Nonnen hörbar machen. Die Oper lebt von intensiven Dialogen und einer individuellen musikalischen Charakterisierung der Figuren: Mère Marie, Madame de Croissy, Madame Lidoine, Blanche und Constance sind von ihm mit eigenständigen, rhythmischen Duktus und spezifischen Melodien versehen, die ihre Persönlichkeiten in musikalischen „Dialogues“ lebendig werden lassen.

Entstehung und Wirkung der Oper: Ein Werk zwischen Vokalem und Intimen

In seiner Reflexion über die Entstehung von Dialogues des Carmélites beschreibt Poulenc ein Schlüsselerlebnis: Als er das Buch von Bernanos zufällig auf den Worten der todkranken Priorin aufschlug, fand er sofort die musikalische Linie und wusste, dass er die Oper schreiben würde. Die Dialogues des Carmélites wurden so eine Oper für die Stimmen, in der jede Figur ihren unverwechselbaren Ausdruck erhält. Poulenc ordnete die fünf weiblichen Hauptrollen ikonischen Frauenpartien wie Amneris, Desdemona und Thaïs zu und entwickelte daraus individuelle Melodien, die eng auf die Stimmungen und seelischen Zustände der Charaktere abgestimmt sind.

Die besondere Wirkung der Oper beruht auch auf der Arbeit mit wiederkehrenden Motiven wie den Themen „peur“, „anxiété“ und „crainte“ – verschiedenen Schattierungen der Todesangst. Nach der erfolgreichen Uraufführung in Mailand schuf Poulenc für die französische Premiere mehrere instrumentale Präludien, um die Handlung trotz Bühnenumbauten flüssig zu halten. Sie fügen dem Werk noch heute besondere Tiefe und Vielfalt hinzu.

Das Finale: Opfer und innerer Frieden

Der bewegendste Moment der Oper ist ihr Finale: Die Karmelitinnen singen das Salve Regina, während sie sich in den Tod begeben. Poulenc lässt nach und nach jede Stimme verstummen, bis nur noch Blanche übrigbleibt. Schließlich endet die Oper in einem fast flüsternden Pianissimo, in dem das Thema des „Apaisement“, der Beruhigung, erklingt und Blanches inneren Frieden symbolisiert. Poulenc gibt dem Moment eine eindringliche Offenheit, die Raum für die Interpretation des Publikums lässt.

Zur Aufführungsgeschichte

Die Oper wurde am 26. Januar 1957 an der Mailänder Scala uraufgeführt, die Pariser Premiere folgte im Juni. Virginia Zeani sang die Rolle der Blanche in der ersten Aufführung, Denise Duval übernahm die Rolle auf Poulencs Wunsch für die französische Fassung. Die Inszenierung von Margarethe Wallmann brachte die Oper zu internationalem Ruhm. An der Wiener Staatsoper fand die Premiere am 14. Februar 1959 in deutscher Sprache statt. Die aktuelle Neuproduktion präsentiert das Werk erstmals in der französischen Originalfassung und ermöglicht so eine neue, authentische Auseinandersetzung mit Poulencs Meisterwerk.