Todesangst und Martyrium in »Dialogues des Carmélites«
Saison 2022/2023 |
Die theologischen Fragen
Die theologische Diskussion, die in Francis Poulencs Oper einen wichtigen Raum einnimmt, dreht sich um die Frage, wie die Rolle der Märtyrerin zu interpretieren ist. Diese Frage wird als Antagonismus zwischen zwei Figuren ausgetragen: Mère Marie de l’Incarnation, die Novizenmeisterin und Vizepriorin, und Madame Lidoine (Mère Marie de St. Augustin), die Nachfolgerin der verstorbenen Madame de Croissy (Mère Marie de Jésus). Diese beiden Frauen sind historisch inspiriert, ihre Charakterzüge und Interessen stammen jedoch aus der Dichtung von Gertrud von le Fort und Georges Bernanos.
Der Gegensatz zwischen den Figuren
Mère Marie de l’Incarnation ist die uneheliche Tochter von Louis François de Bourbon, prince de Conti. In der Dichtung von Gertrud von Le Fort begreift sie es als ihre Sendung, „die Sünden des Hofes zu sühnen“, und tritt deshalb in den Karmel ein. In Francis Poulencs Werk bleibt die Herkunft der Schwestern nur teilweise erklärt, doch wir erfahren, dass Mère Marie als die feurigste Advokatin des Martyriums auftritt. Madame Lidoine hingegen, die neue Priorin, mahnt, dass eine derartige Entscheidung allein Gott vorbehalten bleibt.
Wie kann eine aktive Entscheidung für das Martyrium in einer so strenggläubigen Gemeinschaft wie der Karmelitinnen möglich sein, ohne das christliche Verbot des Selbstmordes zu verletzen? Mère Marie organisiert in Abwesenheit der neuen Priorin eine Abstimmung darüber, ob die Schwestern sich durch einen Schwur zum Martyrium verpflichten sollen. Dies könnte bedeuten, dass sie an ihrem Leben als religiöse Gemeinschaft festhalten, obwohl dies mittlerweile verboten ist und tödlich sein könnte, oder dass sie mögliche Fluchtmöglichkeiten nicht wahrnehmen. Der Schwur, den die Schwestern leisten, wird als Eigenmächtigkeit betrachtet, die Madame Lidoine ablehnt.
Die Perspektive der Darstellerinnen
Eve-Maud Hubeaux, die Mère Marie verkörpert, beschreibt den Charakter als vielschichtiger, als er zunächst scheint. Sie betont, dass es einfacher wäre, Mère Marie als bösartig oder machtversessen zu zeichnen, es aber interessanter sei, sie als den komplexen Charakter zu sehen, der sie tatsächlich ist. Für Hubeaux sind die aktuellen Bezüge in der Oper universell und relevant. Die Geschichte der Obsession Mère Maries mit dem Martyrium spiegelt das Streben nach einem Platz in einer von Männern dominierten Welt wider. Themen wie die Suche nach Identität und der Kampf für das Recht auf Glaubensfreiheit sind nach wie vor aktuell.
Maria Motolygina, die Madame Lidoine singt, sieht die Stärke ihrer Figur, die jedoch ebenfalls von Angst geprägt ist. Sie erklärt, dass die Todesangst natürlich auch Madame Lidoine betrifft, und beschreibt, wie schwer es für sie ist, zum ersten Mal eine so große Verantwortung für die Karmelitinnen zu tragen. Sie hat Angst, falsche Entscheidungen zu treffen, und dieser Druck lastet schwer auf ihr. Als Person, die aus einfacheren Verhältnissen kommt als viele der anderen Schwestern, bringt sie eine gewisse Hypothek in ihre neue, exponierte Stellung mit. Trotz ihres verantwortungsbewussten Auftretens muss man erkennen, dass sie sich in einer herausfordernden und erschöpfenden Situation befindet.
Für die Bühnenumsetzung ist für Motolygina die Arbeit mit dem Körper zentral. Der Konflikt zwischen Madame Lidoine und Mère Marie muss an vielen Stellen körperlich zum Ausdruck kommen, damit er für das Publikum spürbar wird. Auch die Angst von Madame Lidoine muss sichtbar werden. Ein lebendiges, unverkrampftes Spiel unterstützt die Stimme, denn der Körper hilft beim Singen. Während einige körperliche Anspannung notwendig ist, versucht sie generell, mit der Musik und dem Gesang zu spielen, was bedeutet, dass der Körper locker bleibt.
Was die stimmliche Umsetzung betrifft, so sieht Motolygina Parallelen zwischen ihrer Rolle und Verdis Desdemona. Beide Figuren wissen, dass sie sterben werden, und zeigen sowohl Emotionalität als auch Stärke angesichts ihres Schicksals. Für Motolygina ist die Partie perfekt, wobei die größten Herausforderungen in den Stellen liegen, in denen Poulenc dem Publikum die Botschaft der Figur vermitteln wollte. In ihrer ersten Arie, der Antrittsrede, singt sie teilweise über längere Strecken nur auf einer Note. Hier ist es besonders wichtig, verständlich und präzise zu sein, da dies entscheidend ist, um die Gedanken der Figur zu vermitteln.
Bereits zu Beginn der Proben ist deutlich zu spüren, wie tief beide Sängerinnen in ihre Rollen und in den Kosmos von Francis Poulencs Dialogues des Carmélites eingetaucht sind. Die Begegnung der beiden ungleichen Mütter auf der Bühne der Wiener Staatsoper verspricht Spannung.