Ein Schaumbad in Moll

Saison 2024/2025 |

Christian Thielemann spricht er über die Einsamkeit im Schaffensprozess und die Karikatur in der Palestrina-Musik.

Nur wenigen gelingt es, noch zu Lebzeiten zur Legende zu werden. Er jedenfalls ist es: Christian Thielemann. Allein die Nennung seines Namens sorgt für ausverkaufte Häuser, wenn er ans Pult tritt, erwarten sich Musikfreundinnen und -freunde stets ein Fest. Was an der Wiener Staatsoper mit einer Così fan tutte-Vorstellung im Jahr 1987 begann, wurde zu einer großen künstlerischen Freundschaft, ja, Partnerschaft. Premieren und Wiederaufnahmen, aber auch Repertoire-Abende. 2023 erhielt Christian Thielemann schließlich die höchste Auszeichnung, die die Wiener Staatsoper zu vergeben hat: die Ehrenmitgliedschaft. Im Dezember leitet er nun Hans Pfitzners Oper Palestrina.

Anfänglich warfen Stimmen dem Komponisten Hans Pfitzner »Modernismus« vor, später nannten ihn viele einen Konservativen. Was war er nun eigentlich? Wie könnte man einem Opernneuling Pfitzner in wenigen Sätzen beschreiben?

Ich empfinde ihn harmonisch weit über Richard Strauss hinausgehend – mit Ausnahme von Werken wie Elektra oder manchen Passagen in Die Frau ohne Schatten. Ganz allgemein ist Pfitzner in seiner ganzen Tonsprache sehr viel herber, weniger gefällig. Das liegt auch an den Sujets: Einen Rosenkavalier hat er halt nie vertont, auf so etwas hat er sich nie eingelassen. Was sie beide, also Pfitzner und Strauss, verbindet, ist ein unglaubliches Gespür fürs Theater.

Und wie ließe sich Palestrina kurz umreißen? Das Werk besteht ja aus vielen Facetten, vom Ringen eines Künstlers bis zur Komödiantik, wie etwa manche Passagen im zweiten Akt zeigen.

Palestrina ist ein Künstler-Drama. Und es ist ein Werk voller Kontraste. Wir erleben im ersten Akt Palestrinas Selbstzweifel, die Erscheinungen der alten Meister, diese ungeheure Mess-Szene – fast Wagner’sche Ausmaße! Im zweiten Akt gibt es auch, wie Sie sagen, die Karikatur, es ist mitunter geradezu eine Groteske, Slapstick! Dann wird es gewaltsam, es wird geschossen, es gibt Folter… willkommen im richtigen Leben! Der dritte Akt versucht aus dem eine Synthese zu bilden, wir sind stimmungsmäßig wieder näher beim ersten Akt, und die Oper endet sehr melancholisch. Man hat Palestrina letztlich zur Inspiration gezwungen – und hier sehe ich etwas Zeitloses, Aktuelles. Denn wie oft versucht die Politik, Künstler zu vereinnahmen! Palestrina ist für mich immer eine Warnung: Mach das nicht, bleib unabhängig!

Das Karikaturenhafte im zweiten Akt beschert uns überdies präzise Porträts der Agierenden...

So wie Wagner oder Richard Strauss besaß auch Pfitzner eine ungeheuerliche Meisterschaft in der Personencharakterisierung – verbrämt mit einer Portion an galligem Humor. Wie er beispielsweise die Wandlung des einflussreichen Kardinals Carlo Borromeo hinbekommt – vom säuselnden Bittsteller, der Palestrina als Komponisten einer alles entscheidenden Messe gewinnen möchte, hin zum absoluten Monstrum, der seine Macht spielen lässt –, das ist einfach großartig! Ebenso die Zeichnung des Kardinallegaten Novagerio als Gemeinheiten verspritzenden, einflussreichen Fiesling, oder des Bischofs von Budoja, der das Konzil als willkommenen Anlass sieht, sich den Genüssen des Lebens auf fremde Kosten hinzugeben, oder des jungen Theologen, der sich nur Sorgen um die täglichen Diäten macht. Selbst die Prunksucht des gar nicht anwesenden habsburgischen Kaisers Ferdinand I. wird durch eine bewusst simpel-pompöse Leitmotivik karikiert. Jede Person im Dunstkreis des Tridentiner Konzils erhält von Pfitzner eine ganz konkrete, unverwechselbare Persönlichkeit und kriegt zugleich ihr Fett ab, alles wird einer schonungslosen ironiegetränkten Kritik unterzogen.

An der Wiener Staatsoper wurde Palestrina 1919 erstmals aufgeführt – unter der Leitung des Komponisten. Es folgten noch etliche Produktionen, die aber alle nicht sehr oft gegeben wurden. Auch erklangen im Haus am Ring seine anderen Opern, verschwanden aber nach und nach vom Spielplan. Woran liegt das? Warum ist Palestrina eine Rarität?

Das hat auch mit der Struktur der Musik zu tun. Wenn man das Werk gut kennt und aufmerksam mitgeht, dann empfindet man es als sehr melodiös. Wenn diese genaue Kenntnis aber fehlt, und das ist bei den Werken von Pfitzner oft so, dann empfinden manche die Musik als schwierig. Doch das ist beim späteren Strauss – etwa bei Capriccio – auch nicht anders. Vieles ist ja sehr eingängig, der Beginn mit Ighino ist fast zum Mitsingen! Und der Borromeo-Auftritt: ungemein spannend! Die visionäre Szene mit den Meistern: sowas von unglaublich gut! Aber: Das Publikum muss sich ziemlich konzentrieren. Palestrina ist kein Stück, das man einfach so hören kann. Palestrina ist nicht Carmen oder La Bohème oder womöglich sogar Lohengrin

»Es weiß natürlich jeder aus eigener Erfahrung, dass man mit manchen großen Fragen mutterseelenalleine ist. Da nutzt es nichts, in einer Gesellschaft aufgehoben zu sein, sich mit vielen gut zu verstehen.«

Der Komponistenkollege Arthur Honegger sprach von einer »musikalischen Überlegenheit« des Palestrina. Ist es das, was das Werk herausfordernd macht?

Es gibt diese wunderbare Geschichte einer Begegnung zwischen Pfitzner und Strauss. Pfitzner klagt über seine Schwierigkeiten beim Komponieren des zweiten Akts von Palestrina, und Strauss antwortet lakonisch: »Warum komponieren Sie ihn dann, wenn’s Ihnen so schwerfällt?« Genau das illustriert Pfitzners Zugang. Er hat sich in seinem Herumüberlegen und Ringen schon auch als sehr wichtig und bedeutsam gefühlt. Strauss aber gewann mit seinem zupackenden Theaterinstinkt und seinen Sujets etwas, das Pfitzner letztlich verwehrt blieb: die große Popularität. Pfitzner hing überdies einem Geniebegriff nach, wie er damals schon etwas angekratzt war, nämlich, dass Inspiration und Genie gleichsam vom Himmel kommen müssen. Denken Sie mal, wie Strauss 1915 – da war er schon über 50 Jahre alt! – anlässlich der Uraufführung seiner Alpensinfonie meinte: »Jetzt endlich hab’ ich instrumentieren gelernt!« Pfitzner hätte so etwas nie gesagt!

Von John Steinbeck ist der Ausspruch überliefert, dass im Moment des Schöpferischen jeder einsam ist. Palestrina geht im ersten Akt mit seiner Feststellung, dass »das Innerste der Welt Einsamkeit sei«, über diesen Gedanken sogar noch hinaus. Keine sehr optimistische Weltsicht, oder?

Es weiß natürlich jeder aus eigener Erfahrung, dass man mit manchen großen Fragen mutterseelenalleine ist. Da nutzt es nichts, in einer Gesellschaft aufgehoben zu sein, sich mit vielen gut zu verstehen. Freunde und Verwandte können bestenfalls Tipps geben, die letztgültige Entscheidung muss der Einzelne selbst treffen. Das meint Palestrina respektive Pfitzner an dieser Stelle. Ich habe das Werk einmal mit Peter Schreier gemacht, der damals nachdrücklich bestätigte, gerade diesen Satz Palestrinas gut nachvollziehen zu können und ähnliche Depressionen – so nannte er es – ebenfalls schon durchlebt zu haben. Worauf ich ihm erwiderte, dass ich das Werk aber nicht aus einem Geist der Depression heraus dirigieren möchte, sondern die Vielschichtigkeit dieser Oper erhalten will. Wie wunderbar sind doch das »In dir, Pierluigi, ist noch ein hellstes Licht« in der Szene der Erscheinung der alten Meister und Lukrezias »Nah bin ich dir im Friedenslicht«, oder das herrliche Rom-Thema am Schluss: Da hat Pfitzner dem Affen dann doch Zucker gegeben!

Wie kontrastierend erscheinen zum ersten Akt der meistersingerhaft-spritzige, komödiantische zweite Akt und der im Letzten versöhnliche dritte Akt. Sicherlich, am Ende stellt sich Palestrina an der Orgel sitzend wie gesagt nachdenklich zu Recht die Frage, ob man ihn kleingekriegt und gezwungen hat, die Messe zu komponieren, oder ob diese doch ein Ergebnis der künstlerischen Inspiration sei. Die Frage lässt Pfitzner musikalisch gesehen unbeantwortet, schließlich greift er an dieser Stelle wieder Motive des ersten Vorspiels auf. Interessant ist allerdings die Antwort Palestrinas auf die Frage seines Sohnes Ighino, ob er sich freue. Denn diese lautet: »Doch, mein Kind, nur sieh’ bin nicht mehr jung, ich freu’ mich nicht so laut.« Aber immerhin, wenn auch nicht so laut, freut sich Palestrina offenkundig, ist also irgendwie glücklich. Und das vermittelt doch wirklich nichts Pessimistisches.

In der erwähnten Szene der Erscheinung der Meister fällt der Satz »Ein letzter Ton noch fehlet zum klingenden Akkord«, der Palestrina darauf aufmerksam macht, dass sein »Erdenpensum noch nicht getan ist«, er also noch ein Werk zu vollbringen habe. Bedeutet das aber weitergedacht nicht: Irgendwann hat ein Künstler alles gesagt, was er zu sagen hatte?

Sicherlich war Bruckner am Ende seines Lebens so müde, dass er das Finale seiner neunten Symphonie, die Aufgabe, die er sich dort gestellt hat, nämlich alle Themen miteinander zu verquicken, nicht mehr geschafft hätte. Aber wenn man physische Gebrechen oder Tod beiseitelässt: Wer weiß, was zum Beispiel von Mozart noch gekommen wäre. Oder von Schubert, von Wagner... Nein, ich denke, dass Pfitzner sich mit diesem Palestrina, dem um ein großes Werk ringenden Künstler, bis zu einem gewissen Grad einfach identifiziert hat, ein Idealbild seiner selbst auf die Bühne gestellt hat.

Pfitzner wurde ja als junger Mann ähnlich wie Korngold als der Überflieger gehandelt. Zunächst war Pfitzner sogar angesehener als der fünf Jahre ältere Richard Strauss, und an seinem in Mainz uraufgeführten tollen Opernerstling Der arme Heinrich erkennt man die Arbeit eines wirklichen herausragenden Komponisten. Doch spätestens ab Salome und Rosenkavalier war das Rennen zugunsten von Strauss entschieden. Dazu kam, dass Pfitzner grundsätzlich kein Sympathieträger war – man muss sich nur die Fotos ansehen, auf denen er vergrübelt beim Klavier sitzt. Er hat sich in seine Ansichten und Ideale verbissen, wollte, wie gesagt, im Gegensatz zu Strauss nie alle Fünfe grade sein lassen und kommt auch in seinen Schriften immer wieder fast diktatorisch daher. Er war überdies ein schlechter Netzwerker und konnte in späteren Jahren nirgendwo richtig Fuß fassen. Ich glaube auch, dass sich zum Beispiel seine antisemitischen Ausritte gegen Schönberg und jene gegen die Zwölftonmusik auch aus dieser Frustration nährten.

Gibt es eine künstlerische Wahrheit? Soll diese Messe in dieser Oper als Symbol für eine künstlerische Wahrheit einer bestimmten Zeit stehen?

Nein, nein, das sehe ich überhaupt nicht, zumal ich selbst nicht an eine Wahrheit in der Kunst glaube. Wenn ich mich ans Pult stelle, um Palestrina zu dirigieren, erwarten Sie von mir eine persönlich gefärbte Wiedergabe – und das werden Sie auch erhalten. Aber Wahrheit? Ich habe meine eigene Palestrina-Aufnahme von 1997 angehört und finde sie heute passagenweise zu langsam, ich habe mich also weiterentwickelt und bin von meiner früheren Interpretation nicht mehr überzeugt. Den Anspruch auf Wahrheit kann ein Kunstwerk nie erheben.