Die Ursprünge vom Kinderchor in »Werther«: Ein Tribut an Goethes Lotte

Saison 2022/2023 |

Jules Massenets »Werther« beeindruckt mit meisterhaften Kinderchorszenen, inspiriert von Goethes Die Leiden des jungen Werthers.

Goethes leidenschaftlicher Werther als ideale Opernvorlage

„Eine derart wilde, verzückte Leidenschaft trieb mir die Tränen in die Augen. Diese aufwühlenden Szenen, diese fesselnden Bilder – was musste das alles hergeben! Das war Werther! Das war mein 3. Akt.“

Mit diesen Worten beschrieb Massenet seine Ergriffenheit, nachdem ihm sein Librettist Georges Hartmann die französische Übersetzung von Goethes Die Leiden des jungen Werthers gegeben hatte. Der erst fünfundzwanzigjährige Goethe traf in seinem Briefroman das Lebensgefühl des Sturm und Drang, das seine Generation prägte: impulsive Emotionen und eine leidenschaftliche Kompromisslosigkeit in Liebe und Kunst. Goethes Geniefigur und ihr unausweichliches tragisches Ende boten sich ideal für eine Opernhandlung an.

Atmosphärische Kinderszenen und das thematische Erbe Goethes

Goethes Werk vermittelt nicht nur die fiebrige Leidenschaft des Sturm und Drang, sondern gibt auch dessen Themen und Ideale wieder. Was Goethe in nur sechs Wochen niederschrieb, umfasste seine eigenen Liebeserfahrungen und seine Begeisterung für die Natur und das Leben der „einfachen Leute.“ Dies sind typische Themen der „Stürmer und Dränger,“ beeinflusst durch Rousseaus Schriften, die das Ungekünstelte und „Unverdorbene“ im Menschen suchen.

In Werther verwendet Goethe starke, atmosphärische Bilder, die die Dramaturgie des Romans intensivieren. Lotte, wie Goethes Angebetete Charlotte Buff, hat zahlreiche Geschwister, um die sie sich kümmert. Diese Szenen vermitteln ein Ideal der Unschuld, das Goethe geschickt nutzt, um Lotte als mütterliche Figur darzustellen und das Leben der einfachen Leute zu illustrieren.

Kinderchor und Weihnachtslied: Massenets Interpretation

Massenet und seine Librettisten Edouard Blau, Paul Milliet und Georges Hartmann vertieften diese Szenen und machten daraus einen Kinderchor, der in der Oper Werther eine zentrale Rolle einnimmt. Bereits im Sommer studiert der Chor das Lied von der Geburt Jesu Christi ein und steigert so die Bedeutung des nahenden Weihnachtsabends. Die Kinder stehen in direktem Bezug zum Christuskind, und am Ende der Oper begleitet ihr Lied die Szene, in der Werther in Lottes Armen stirbt.

Die kraftvolle Weiterentwicklung und die Wahl für den Kinderchor und das Weihnachtslied stammen von Massenet und seinen Librettisten – ein Element, das die gedanklichen Ansätze in Goethes Vorlage atmosphärisch fortführt.

Auszug aus Werthers Tagebuch:

Den 17. Mai

Noch gar einen braven Mann habe ich kennen lernen, den fürstlichen Amtmann, einen offenen, treuherzigen Menschen. Man sagt, es soll eine Seelenfreude sein, ihn unter seinen Kindern zu sehen, deren er neun hat; besonders macht man viel Wesens von seiner ältesten Tochter. Er hat mich zu sich gebeten, und ich will ihn ehster Tage besuchen. Er wohnt auf einem fürstlichen Jagdhofe anderthalb Stunden von hier, wohin er nach dem Tode seiner Frau zu ziehen die Erlaubnis erhielt, da ihm der Aufenthalt hier in der Stadt und im Amtshause zu weh tat.

Am 27. Mai

Ich bin, wie ich sehe, in Verzückung, Gleichnisse und Deklamation verfallen und habe darüber vergessen, dir auszuerzählen, was mit den Kindern weiter geworden ist. Ich saß, ganz in malerische Empfindung vertieft, die dir mein gestriges Blatt sehr zerstückt darlegt, auf meinem Pfluge wohl zwei Stunden. Da kommt gegen Abend eine junge Frau auf die Kinder los, die sich indes nicht gerührt hatten, mit einem Körbchen am Arm, und ruft von weitem: »Philipps, du bist recht brav.« Sie grüßte mich, ich dankte ihr, stand auf, trat näher hin und fragte sie, ob sie die Mutter von den Kindern wäre. Sie bejahte es, und indem sie dem ältesten einen halben Weck gab, nahm sie das kleine auf und küßte es mit aller mütterlichen Liebe. »Ich habe«, sagte sie, »meinem Philipps das Kleine zu halten gegeben und bin mit meinem Ältesten in die Stadt gegangen, um Weißbrot zu holen und Zucker und ein irden Breipfännchen.« [...]
Ich sage dir, mein Schatz, wenn meine Sinne gar nicht mehr halten wollen, so lindert all den Tumult der Anblick eines solchen Geschöpfs, das in glücklicher Gelassenheit den engen Kreis seines Daseins hingeht, von einem Tage zum andern sich durchhilft, die Blätter abfallen sieht und nichts dabei denkt, als daß der Winter kommt. 
Seit der Zeit bin ich oft draußen. Die Kinder sind ganz an mich gewöhnt, sie kriegen Zucker, wenn ich Kaffee trinke, und teilen das Butterbrot und die saure Milch mit mir des Abends. Sonntags fehlt ihnen der Kreuzer nie, und wenn ich nicht nach der Betstunde da bin, so hat die Wirtin Ordre, ihn auszuzahlen. 
Sie sind vertraut, erzählen mir allerhand, und besonders ergetze ich mich an ihren Leidenschaften und simpeln Ausbrüchen des Begehrens, wenn mehr Kinder aus dem Dorfe sich versammeln. 
Viel Mühe hat michs gekostet, der Mutter ihre Besorgnis zu nehmen, sie möchten den Herrn inkommodieren.

Am 16. Junius

[…] Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen würde gleich kommen. Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich
die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um
ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem
sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gabs jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein: »Danke!« indem es mit den kleinen Händchen lange in die Höhe gereicht hatte, ehe es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnügt entweder wegsprang oder nach seinem stillern Charakter gelassen davonging nach dem Hoftore zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen, darin ihre Lotte wegfahren sollte. »Ich bitte um Vergebung«, sagte sie, »daß ich Sie hereinbemühe und die Frauenzimmer warten lasse. Über dem Anziehen und allerlei Bestellungen fürs Haus in meiner Abwesenheit habe ich vergessen, meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben, und sie wollen von niemanden Brot geschnitten haben als von mir.« […]

Am 29. Junius

Vorgestern kam der Medikus hier aus der Stadt hinaus zum Amtmann und fand mich auf der Erde unter Lottens Kindern, wie einige auf mir herumkrabbelten, andere mich neckten, und wie ich sie kitzelte und ein
großes Geschrei mit ihnen erregte. Der Doktor, der eine sehr dogmatische Drahtpuppe ist, unterm Reden seine Manschetten in Falten legt und einen Kräusel ohne Ende herauszupft, fand dieses unter der Würde eines gescheiten Menschen, das merkte ich an seiner Nase. Ich ließ mich aber in nichts stören, ließ ihn sehr vernünftige Sachen abhandeln und baute den Kindern ihre Kartenhäuser wieder, die sie zerschlagen hatten. Auch ging er darauf in der Stadt herum und beklagte, des Amtmanns Kinder wären so schon ungezogen genug, der Werther verderbe sie nun völlig.
Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen sind die Kinder am nächsten auf der Erde. Wenn ich ihnen zusehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller Tugenden, aller Kräfte sehe, die sie einmal so nötig brauchen werden, wenn ich in dem Eigensinne künftige Standhaftigkeit und Festigkeit des Charakters, in dem Mutwillen guten Humor und Leichtigkeit, über die Gefahren der Welt hinzuschlüpfen, erblicke, alles so unverdorben, so ganz! – immer, immer wiederhole ich dann die goldenen Worte des Lehrers der Menschen: Wenn ihr nicht werdet wie eines von diesen! Und nun, mein Bester, sie, die unseresgleichen sind, die wir als unsere Muster ansehen sollten, behandeln wir als Untertanen. Sie sollen keinen Willen haben! – Haben wir denn keinen? und wo liegt das Vorrecht? – Weil wir älter sind und gescheiter! – Guter Gott von deinem Himmel, alte Kinder siehst du und junge Kinder und nichts weiter; und an welchen du mehr Freude hast, das hat dein Sohn schon lange verkündigt. Aber sie glauben an ihn und hören ihn nicht, – das ist auch was Altes! – und bilden ihre Kinder nach sich und – Adieu, Wilhelm! Ich mag darüber nicht weiter radotieren.