Die Rollen des Grafen & der Gräfin in »Le nozze di Figarol«

Saison 2022/2023 |

Andrè Schuen und Hanna-Elisabeth Müller über ihre Rollen in »Le nozze di Figarol«.

Der Graf

Text Andrè Schuen

Der Graf ist ein Mensch, der in eine Welt hineingeboren wurde, die ihm stets alles nur Erdenkliche geboten hat. Daher ist er es gewohnt, auf nichts verzichten zu müssen. Etwas nicht zu bekommen – das scheint ihm unvorstellbar und bringt ihn völlig auf die Palme: Er flippt aus. Dieses Ausflippen ist eines seiner charakteristischen Merkmale und passiert immer wieder, insbesondere wenn man ihm das Gefühl gibt, sich nicht richtig verhalten zu haben. Diese impulsiven Reaktionen sind musikalisch nicht ganz ungefährlich, denn man gerät in Versuchung, diesen andauernden Zorn auch stimmlich durch ein „Draufhauen“ zu zeigen – was auf Dauer nicht gesund ist.

Im ersten Teil der Figaro-Trilogie, Der Barbier von Sevilla, wird deutlich, dass der Graf Rosina, die spätere Grafin, geliebt hat – und ich bin überzeugt, dass er dies immer noch tut. Leider ist er jedoch ein Schürzenjäger und hat neben seiner Gattin zahlreiche Affären; dies könnte von Anfang an Teil seiner Natur gewesen sein und ist nicht nur während seiner (gar nicht so langen) Ehe entstanden. Ein zentrales Thema bleibt die Frage nach der Ehrlichkeit seines „perdono“ am Ende der Handlung. Darf man ihm glauben? Ich habe diesbezüglich meine Zweifel! Zwar meint er es in diesem Moment sicherlich aufrichtig, doch wird es nicht lange dauern, bis er alles vergisst und sein altes Verhalten fortsetzt. Dennoch sollte man nicht außer Acht lassen, dass er auch positive Eigenschaften besitzt. Diese werden in Die Hochzeit des Figaro nicht sichtbar, aber es gibt sicher etwas, was die Grafin an ihm bindet – und ich glaube, dass sie ihn nach wie vor liebt. Der Graf kann, oder konnte, liebevoll, einnehmend und überzeugend sein. Er ist auch nicht so einfältig, wie er oft dargestellt wird. Sein Hauptproblem ist, dass ihn seine Leidenschaft blenden kann und er dadurch zu keiner Reflexion in der Lage ist.

In Bezug auf die Vorgeschichte im Barbier von Sevilla muss erwähnt werden, dass zwischen ihm und Figaro kein enges Freundschaftsverhältnis besteht. Er hat Figaro zwar gebraucht, um an Rosina zu gelangen, doch im Schloss benötigt er ihn nicht mehr so dringend, was zu einem Abkühlen ihrer Beziehung führt. „Buddies“ waren sie nie, auch nicht im Barbier. Die Faszination der Figur liegt in ihrer Vielfältigkeit: Der Graf kann zornig bis zum Exzess sein, dann von Fassungslosigkeit ergriffen werden und gleich darauf wieder in Rage geraten. Das Duett mit Susanna im dritten Akt ist wunderschön und lyrisch, gefolgt von dem ganz anders gestalteten „Hai già vinta la causa“ und dem Sextett, das ganz im Stil einer Opera buffa gehalten ist. Dieses ständige Hin und Her, das der Graf durchlebt, macht ihn zu einer Figur mit vielen Facetten, sobald man das einfache Bild eines oberflächlichen Charakters hinter sich lässt. 

Der Bariton André Schuen, international gefeierter Opern- und Liedsänger, trat unter anderem bei den Salzburger Festspielen, in Graz, Madrid, am Theater an der Wien, in Tokio, Hamburg, Paris und London auf. An der Wiener Staatsoper debütierte er 2020 und sang unter anderem die Titelfigur in der Premiere von Eugen Onegin, sowie die Rollen des Olivier und Graf Almaviva.

Die Gräfin

Text Hanna-Elisabeth Müller

Immer wieder verblüfft es, wie aktuell die Figuren Mozarts und Da Pontes sind. Nehmen wir das Beispiel der Gräfin: Wer hat nicht im Bekanntenkreis jemanden, der oder dem es ähnlich geht wie ihr? Dieses Feststecken in einer Beziehung, das emotionale Gebundensein und die Unfähigkeit, sich von einer Person zu lösen, sind so gegenwärtig wie alltäglich. Die Gräfin ist sich des Verhaltens ihres Ehemanns bewusst und bleibt dennoch bei ihm, was nicht nur gesellschaftliche Gründe hat. Warum also? Weil sie ihn nach wie vor liebt! Denn warum sonst würde eine Frau all seine Eskapaden mitansehen? Diese Liebe hat ihre Wurzeln in der Vorgeschichte, im Barbier von Sevilla, wo die Widerstände gegen ihre Heirat die beiden zusammengeschweißt haben. Zudem ist der Graf kein Tölpel, sondern ein imposanter und souveräner Mann, der durchaus eine Wirkung auf sein Gegenüber hat. In den Konversationen merkt man, wie klug und schnell er denkt. Ein kluger Mensch ist immer interessant, und wenn er interessant ist, wird er auch attraktiv. Mit anderen Worten: Der Graf ist ein attraktiver Ehemann – wären da nicht die vielen „Abers“.

Gerade aus dieser Liebe heraus möchte die Gräfin am Ende seiner Bitte um Verzeihung glauben. Sie klammert sich an diesen Strohhalm, selbst wenn sie innerlich weiß, dass er sich nicht ändern wird. Diese Hoffnung ist ihre einzige Schwäche, die in der Oper deutlich wird: dass sie sich in dieser Hinsicht so klein macht. Trotz all dieser Erkenntnisse ist es wichtig, die Gräfin vor zu viel Trauer und Lethargie zu bewahren. Sie ist nie in einem aussichtslosen Leidenszustand, sondern hat sich eine Helligkeit und Leichtigkeit bewahrt. In den berückenden Legato-Bögen ihres Gesangs muss immer ein wenig Hoffnung durchschimmern, und man muss spüren, dass sie nie vor dem Leben kapituliert. Hier finden wir sicherlich auch noch Anteile der Rosina aus dem ersten Teil der Trilogie, wie man in ihrer Klugheit und ihrem Pläne schmieden ihr jüngeres Ich wiedererkennt.

Die Gräfin hat sich natürlich verändert, steht sie jetzt doch an der Spitze der Hierarchie, was sich durch eine klare gesellschaftliche Über- und Unterordnung zwischen ihr und Susanna zeigt. Die beiden könnten unter anderen sozialen Bedingungen Freundinnen sein, aber in diesem Fall bleibt immer eine Schranke. Susanna, die einzige Vertraute im Schloss, bleibt die Dienerin – da darf man nicht zu viel hineininterpretieren. Auch zu Figaro wahrt die Gräfin im Gegensatz zum Barbier von Sevilla eine relativ große Distanz.

Wie steht sie jedoch zu Cherubino? Zu ihm fühlt sich die Gräfin durchaus auf einer körperlichen Ebene hingezogen, belässt es aber bei einem mehr oder weniger harmlosen Flirt – wobei die Gräfin selbst keine ganz harmlose Person ist. Sie hat jedoch zu viel Respekt vor der Ehe und dem Grafen, als dass sie mit Cherubino wirklich etwas riskieren würde. Ein großer Unterschied zum Verhalten ihres Gatten! All dies fügt sich zu der – meiner Meinung nach – komplettesten Figur der Oper: Man kann im Laufe des Abends die Gräfin in all ihren Facetten wie in einer 360-Grad-Aufnahme erleben. Genial von Mozart und Da Ponte geschaffen!

Hanna-Elisabeth Müller singt unter anderem an der Bayerischen Staatsoper, der New Yorker Metropolitan Opera, der Mailänder Scala, bei den Salzburger Festspielen sowie in Paris, Zürich, Hamburg und Baden-Baden. An der Wiener Staatsoper war sie bisher als Pamina sowie in den Premierenproduktionen von Don Giovanni (Donna Anna) und Die Meistersinger von Nürnberg (Eva) zu hören.