Die mehreren Schlüsse der Zauberflöte

Saison 2024/2025 |

Neu gedacht: Regisseurin Barbora Horáková verbindet Märchen und Menschlichkeit zu einer berührenden Neuinszenierung.

Barbora Horáková stammt aus Tschechien. Sie startete eine erfolgversprechende Gesangskarriere als Mitglied des Internationalen Schweizer Opernstudios, studierte Opernregie an der Bayerischen Theaterakademie, sammelte als Spielleiterin und Dramaturgin am Theater Basel wichtige Berufserfahrung und ist heute eine international vielgefragte Musiktheaterregisseurin. Auf ihre Neuinszenierung der Zauberflöte hat sie sich vier Jahre vorbereitet. Zwei Wochen nach Probenbeginn hat sie Sergio Morabito in einem Gespräch einige ihrer Gedanken und Erfahrungen zu dieser Oper mitgeteilt.

Die Oper heißt Die Zauberflöte. Das heißt für mich, es muss Zauber und es muss eine Flöte geben. Der Klang einer Flöte, die im Stück immer wieder solistisch zu hören ist, ist etwas Uraltes. Die Flöte ist vielleicht das älteste Instrument, das wir haben, das eine Evolution erlebt hat aufgrund einer menschlichen Neugierde, die in uns steckt. Vielleicht war es so: Da hatte ein Knochen ein Loch, und er hat beim Durchblasen geklungen. Und dann war da noch ein anderes Loch, das hat anders geklungen. Und dieser Klang macht etwas mit den Menschen, die zuhören. Dieser Klang, diese Kunst, diese Musik, dieses etwas, das wir erfunden haben, führt uns zu uns selbst zurück: Dass wir Menschen eben sowohl gut als auch böse sind, aber das Gute vielleicht doch siegen kann in einer gewissen Harmonie. 

Das Erstaunliche ist, dass Die Zauberflöte von Anfang an ein Hit geworden ist, weil sie so zugänglich ist. Auch durch die Dialoge ist sie nicht so hermetisch in sich geschlossen wie andere Opern und öffnet sich so für alle. Und jeder kennt die Melodie nicht nur einer Arie: Alle Nummern in der Zauberflöte kann man nachsingen. Sie klingt also einfach, aber wenn man hineinschaut in die Partitur, wird einem bewusst, wie unglaublich konstruiert das auch ist, was alles in diesen Akkorden steckt und warum genau dieser Akkord an genau dieser Stelle steht… Da wird man ja nie fertig, wenn man das alles wirklich verstehen will! Das ist eine Lebensarbeit. Das ist das Großartige: Dass es dieses Stück schafft, dass wir uns den Kopf zerbrechen. Und dass es am Ende für alle zugänglich ist und sich wirklich jeder ein Stück weit damit identifizieren kann.

Symbolik und Sinn

Beginnt man über die Zauberflöte nachzudenken und geht wirklich tiefer, wird man immer verrückter und verrückter, und man versteht immer weniger und weniger. Das finde ich so unglaublich: Die vielen verschiedenen Perspektiven, die das Stück anbietet. Konzentriert man sich auf die symbolischen Aspekte oder auf eine historische Kontextualisierung? Ist die Oper eigentlich eine Komödie oder doch nur ein Märchen? Soll das alles Sinn haben oder soll es keinen Sinn ergeben?

Wir wissen ja: In den Märchen verbirgt sich stets ein großer philosophischer und symbolischer Gehalt. Man kann Dinge erzählen, zum Beispiel über politische Systeme, die man so nicht immer laut aussprechen darf, sondern eben nur durch einen märchenhaften Schleier oder eine Maske hindurch. Die Königin der Nacht ist zunächst die leidende Mutter, die dann zur Bösen wird, die der Menschheit schaden will. Wenn man aber ihrer Geschichte nachforscht, bemerkt man, was für Traumata in dieser Figur arbeiten. Welches Unrecht geschehen ist, als ihr etwas abgenommen wurde und sie sich damit nicht abfinden kann. Wie das oft ist, wenn man Traumata weiterführt und sie eben nicht stoppen kann. Das führt dann etwa, wie in Israel und Palästina, zu einem unendlichen Konflikt. Man kann das alles sehr global betrachten, und dann rotiert es im Kopf. Auch bei Sarastro und seinem Herren-Club: Man denkt, dass er am Anfang eigentlich ein Diktator ist, der die Dinge wirklich unter Kontrolle hält, der auch sehr klug ist und weiß, wie man das tut. Er wird dann aber immer menschlicher. Als Frau erschrecke ich zunächst vor dieser ganzen Hierarchie und dem Elitismus, in dem Frauen überhaupt keinen Platz haben. Aber am Schluss denke ich dann doch: Vielleicht meint es der Mann doch irgendwie gut, auch wenn er ganz falsche Mittel benutzt. Vielleicht versteht er, dass Weisheit und Vernunft nicht zum Machterhalt missbraucht werden sollten. Und vielleicht wird er dadurch auch ein Stück femininer und milder.

Gemeinsam älter – und größer werden

Ich denke immer, die Zauberflöte hat mehrere Schlüsse. Sie hat einen Schluss wie im Märchen, nachdem die beiden Protagonisten eine Prüfung bestanden haben. Aber man weiß auch nicht so richtig: War das wirklich die Prüfung? War es schon das Ende der Prüfung? Wann hat die Prüfung begonnen? Was waren die Prüfungen davor? Warum ist Pamina erst am Ende in diese Prüfungen involviert? Und dann bemerkt man: Sie war ja eigentlich schon immer Teil der Prüfung! Denn als Tamino abgeführt wird, ist sie schon da. Wer wird hier eigentlich geprüft? Da beginnt auch ihre Prüfung, denn sie muss akzeptieren, dass jemand eventuell sterben wird. Wie die ukrainischen Mütter, Frauen, Schwestern, Geliebten, die akzeptieren müssen, dass ihre Männer in den Krieg ziehen. Und das ist die Prüfung: Diese ewige Angst und Ungewissheit, einen lieben Menschen vielleicht zu verlieren. Und deshalb habe ich auch eine Umstellung vorgenommen und das Terzett von Pamina, Tamino und Sarastro vom Ende des zweiten Aktes, »Soll ich dich, Teurer, nicht mehr sehn?«, an den Anfang des Aktes gerückt. Wenn wir damit beginnen, verstehen wir, dass auch ihr eine Prüfung auferlegt wird. Und dann kommt eine andere Prüfung, eine Schweigeprüfung: Tamino spricht nicht mehr mit ihr und sie darf die Hoffnung dennoch nicht verlieren. Und dann geht sie tatsächlich physisch mit ihm durchs Feuer und die Wasserfluten. Dieses Stück, das in der ersten Lesart frauenfeindlich wirkt, hat also eine Protagonistin, eine Pamina, die doch eigentlich jene ist, die alles zusammenhält. 

Und deshalb möchte ich auch, dass die beiden im Stück älter werden, dass sie altern. Damit man lernt: Wir sind da, um zu versuchen, Dinge zu verstehen, und verstehen am Schluss vielleicht gar nichts, aber wir bleiben zusammen. Es geht um diesen Liebesbeweis, dass man im Guten wie im Schlechten zusammenbleibt und bereit ist, auch Schmerzen durchzustehen. Deshalb führen Pamina und Tamino am Ende auch diese Puppen alter Menschen mit sich. Und dann sind die Puppen weg und sie bleiben da und man fängt wieder von vorn an. Das Lernen hört nie auf. Das ist der eine Schluss.

»In den Märchen verbirgt sich stets ein großer philosophischer und symbolischer Gehalt.
Man kann Dinge erzählen, zum Beispiel über politische Systeme, die man so nicht immer laut aussprechen darf, sondern eben nur durch einen märchenhaften Schleier oder eine Maske hindurch.«

Und dann gibt es einen zweiten Schluss: Da erleben wir das Glück von Papageno, das ihn zu einem geliebten Menschen geführt hat. Wir sind ja Paarmenschen. Wir müssen Liebe spüren und Liebe geben können. Auch ein Vogelfänger kann nicht akzeptieren, allein zu sein, und eigentlich sehnt er sich nach jemandem. Und er ahnt dies ganz früh in einem Duett mit Pamina, das für mich die ganze Philosophie der Welt in sich trägt: »Mann und Weib und Weib und Mann reichen an die Gottheit an«, und egal, ob das jetzt Weib und Weib oder Mann und Mann ist: Mit jemandem zusammen wird man einfach größer und kann anders über sich hinauswachsen, als wenn man allein bleibt. Papageno ist als Vogelfänger oder Vogelmensch eine Märchenfigur und zugleich die menschlichste Figur des Stückes. Er gibt preis, dass man als Mensch Fehler hat und das System in uns manchmal nicht richtig funktioniert. Er sagt ganz klar: Manchmal ist es besser, wenn ich einfach im Beisl sitze und mit Freunden Spaß haben kann und jetzt gerade einmal nicht die ganze Welt verstehen muss mit allen Furchtbarkeiten. Was natürlich nicht heißt, dass er diese nicht spürt. Papageno ist jemand, der am Anfang auch sehr traurig ist: Er fängt lebendige Vögel, die er dann der Königin übergibt im Wissen, dass sie nicht mehr lange leben werden. Aber das ist sein Beruf. Und er ist jemand, der unglaublich einsam ist. 

Und als dritter Schluss kommen Monostatos, die Königin und die drei Damen, die versuchen, so etwas wie einen bösen Schluss zu erzielen. Aber das Böse ist hier musikalisch so karikiert, dass man es kaum ernst nehmen kann. Es ist für mich, als wären die Figuren gar nicht mehr die Figuren, die sie vorher waren, sondern sie stehen einfach da, um uns daran zu erinnern: »Vergiss das Böse nicht! Das Böse gibt es, aber wenn wir alle zusammenhalten, dann können wir es bekämpfen.« Wenn ich an die Kinder denke, die zuschauen werden, möchte ich, dass sie darüber lachen können.

Reine Menschlichkeit

Und dann kommt noch der allerletzte Schluss: Der triumphierende, ganz kurze Schluss, wenn alle wieder aufeinandertreffen. Er verlässt das Märchenhafte zugunsten der reinen Menschlichkeit, die von den »Heiligen Hallen« schon als Hoffnung oder Andeutung vorweggenommen wurde: Wir sehen wie Menschen, die in ganz privater Alltagskleidung auf die Bühne kommen, eine Pamina, die noch in ihrem Kostüm ist, umarmen. In der Zauberflöte findet man diese Kontraste: Dunkelheit und Licht, Tod und Leben, Moll und Dur. Man ist in einer Welt und dann plötzlich in einer anderen Welt. Diese Magie ist das Schöne an der Zauberflöte. Das ist auch das Unlogische. Ich spiele auch mit dem Unlogischen. Wir befinden uns zuerst in einem Raum, der uralt wirkt, und dann belebt er sich plötzlich, wenn Sarastro kommt, und es ist, als würde der Raum in dem Glamour erstrahlen, der ihn vor hundert Jahren erfüllt hat. Am Schluss, wenn Pamina sich umbringen will und die Knaben das zu verhindern suchen, ist der Raum wieder ruinenhaft und verschneit – und ganz zuletzt gibt es keinen Raum mehr. Man ist im Hier und Heute und man hört und singt, wie auch in zwanzig Jahren noch gesungen werden wird. Lasst uns versuchen, einfach nur da zu sein und Musik zu machen, vielleicht die Herzen zu öffnen, und aus dieser Oper als vielleicht bessere Menschen hinauszugehen. Ich weiß nicht. Das ist natürlich sehr hoch gedacht und ich möchte auf keinen Fall den moralischen Zeigefinger heben.

Ich persönlich bin ein sehr emotionaler Mensch, glaube ich. Ich versuche immer, die Sachen durch meine Emotionen zu verstehen. Ich habe durch meine Herkunft und meine Familiengeschichte viel erlebt. Aber ich habe das Glück, dass ich in meiner Familie totalitären Systemen zum Trotz immer diese Liebe zu spüren bekommen habe. Was ich gespürt habe, war, dass man nie aufhören darf, an die Menschen zu glauben. Dass man Gutes schaffen kann. Dass man überhaupt nie aufhören darf, zu glauben. Das hat mich sehr geprägt. Deshalb ist keine der vielen Geschichten, die diese Oper erzählt, unglaubwürdig für mich. Ich denke, dass genau das alles geschehen könnte.