Die geheimnisvolle Schule des Sehens
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»Da mich dieses Sujet sehr anzieht, fühle ich, dass ich imstande bin – sofern nur meine musikalisch-schöpferischen Fähigkeiten noch nicht im Erlöschen begriffen sind –, etwas Schönes zu schreiben, das Beste von Allem, was ich je geschrieben.«
Das schrieb Piotr Tschaikowski an Nikolaj Konradi, den Ziehsohn seines Bruders Modest, am 26.6.1891. Das Sujet, das ihn so sehr anzog, pflegte er zu dieser Zeit noch als König René’s Tochter zu bezeichnen: So lautet der Titel des Schauspiels, aus dem er gemeinsam mit Modest in der Funktion des Librettisten seine Iolanta formen sollte. Das Werk des dänischen Schriftstellers Henrik Hertz hatte Tschaikowski, wie er in einem Interview im Uraufführungsjahr 1892 erklärte, in der Zeitschrift Russkij Westnik (Der Russische Bote) gefunden. Dort war das Stück in der Februarnummer des Jahres 1883 abgedruckt gewesen. »Poesie, Originalität und die Fülle an lyrischen Momenten« hätten ihn damals verzaubert, so der Komponist, sodass er »gelobt« habe, sich seiner Vertonung anzunehmen. Die Gelegenheit bot sich, als das Petersburger Marinski-Theater für die Saison 1891/92 ein Ballett und eine einaktige Oper bei Tschaikowski »bestellte«, wie er am 24. Dezember 1890 an den Komponisten und Pädagogen Michail Ippolit-Iwanow schrieb.
Auch Modest Tschaikowski bestätigte, dass Piotr selbst die Gelegenheit genutzt habe, um König Renés Tochter ins Spiel zu bringen. Die Vorlage zu dem gewünschten Ballett, die Marinski-Direktor Ivan Wsewoloschski vorgeschlagen hatte, kannte Tschaikowski dagegen noch nicht, zeigte sich nach der Lektüre von E. T. A. Hoffmanns Nussknacker und Mäusekönig aber angetan und akzeptierte den Vorschlag.
Königstochter
Der Stoff, aus dem Iolanta werden sollte, ist eine Parabel der Erkenntnis, aber auch ein rührendes Märchen.
Iolanta, die Tochter des provençalischen Königs René, lebt umgeben von Rosensträuchern und Gesellschafterinnen und verborgen vor der Welt. Ihr Vater hat geboten, dass sie weder von seinem Königsstand noch von ihrer Blindheit erfahren darf. Mehr noch: Alles, was mit Licht oder mit Sehen zu tun hat, darf in Iolantas Rosengarten nicht zur Sprache kommen. Erst, wenn es gelungen ist, ihr das Sehvermögen zu geben, soll sie Robert von Burgund kennenlernen, mit dem sie in ihrer Kindheit verlobt wurde. Die Heilung erwartet sich der König von dem berühmten Arzt Ibn-Hakia, den er von weit hergeholt hat, um Abhilfe zu schaffen. Doch René wird enttäuscht. Die Voraussetzung für die Heilung, so Ibn-Hakia, sei Iolantas eigener Wunsch, das Augenlicht zu erlangen.
Darum müsste sie als erstes über ihren Zustand aufgeklärt werden. Dass das der burgundische Ritter Vaudémont übernimmt, eigentlich nur Begleiter von Herzog Robert auf dessen Mission, die Verlobung zu lösen, ist ein romantischer Unfall. Die beiden verlieben sich, und die Liebe zum Ritter wird über Umwege Iolantas Motivation, um sich das Sehen zu wünschen.
Henrik Hertz legte seinem Drama eine historische Figurenkonstellation zugrunde: die drei Hauptfiguren basieren auf René d’Anjou (1409–1480), dessen Tochter Jolande d’Anjou (Jolande von Lothringen, 1428–1483) und Friedrich II. Graf Vaudémont (1420–1470, im Drama »Tristan«). In seiner Nachbemerkung zum gedruckten Schauspiel, die auch deutschen Übersetzungen hinzugefügt wurde, betonte Hertz seinen freien Umgang mit der Geschichte: »Der historische Boden, auf welchem dieses lyrische Drama wurzelt, ist nicht bedeutend […] sparsam sind die Nachrichten, welche [die Geschichte] uns von Jolanthen gibt. Umso mehr also hielt sich der Dichter für berechtigt, seiner Fantasie zu folgen, da er der Geschichte durchaus keine Gewalt antat.«
Tatsächlich hilft die historische Grundlage der Schlüssigkeit des Grundkonflikts im Drama. Die historischen Kontrahenten René d‘Anjou und Antoine de Vaudémont einigten sich im Jahr 1483 unter Vermittlung Philipps des Guten von Burgund auf einen Ehevertrag zwischen ihren Kindern. Auf diese Weise sollte die lange umstrittene Erbfolge in Lothringen geregelt werden. Der Konflikt war von äußerster Brisanz und hatte zwei Jahre vor dem Vertragsschluss noch zur Schlacht von Bulgneville geführt, in deren Zuge Antoines Truppen René sogar gefangen genommen hatten. Mit diesem Hintergrund wird in Henrik Hertz’ Stück erklärt, warum René seine erblindete Tochter versteckt hält: Er fürchtet, dass Antoine sich durch die Blindheit der Schwiegertochter betrogen fühlen und der Konflikt wieder aufflammen würde. Für das Opernlibretto strich Modest Tschaikowski unter anderem diese Hintergrundgeschichte.
Die Fabel um Iolantas Blindheit und Heilung wiederum ist gänzlich der Fantasie entsprungen, die Henrik Hertz anspricht; und sie ist von philosophischen Fragen angeregt, die offenbar auch Piotr Tschaikowski inspiriert haben.
Was Licht ist
In der Oper ist es der Wendepunkt, der im großen Duett zwischen Iolanta und Vaudémont ausgeführt ist: Der Ritter hat die Prinzessin um eine rote Rose gebeten. Als sie ihm stattdessen wiederholt eine weiße vom Strauch bricht, beginnt er, ihren Zustand zu durchschauen. Vaudémont ist fassungslos – habe es sie, die Unbekannte, denn nie verlangt, das Licht zu sehen? Keine besonders kluge Frage, ist die Sehnsucht nach etwas Unbekanntem doch schwer vorstellbar, wie die geduldige Iolanta später ihrem Vater erklären wird. Vaudémont gegenüber begnügt sie sich mit der schlichten Nachfrage: »Ritter, was ist Licht?« Der Angesprochene lässt sich nicht lange bitten und eröffnet das Duett: »Licht ist Gottes erstes ›Werde‹, das erste Geschenk des Schöpfers an die Welt, die Sichtbarwerdung der Herrlichkeit Gottes, die schönste Perle in seiner Krone!«
Dass Iolanta auch für ihre eigene – wie nun auch sie weiß: eingeschränkte – Wahrnehmung Gerechtigkeit fordert, ist ein bemerkenswertes Detail, das die Figur plastischer und interessanter werden lässt. Das Projekt des Ritters, des Vaters, des Dramas und in der Folge auch der Oper ist aber freilich, die Prinzessin an der »Sichtbarmachung der Herrlichkeit Gottes« teilhaben zu lassen. Es geht um die Erkenntnis des (Welt-)Ganzen, daran lässt auch Piotr Tschaikowski in seiner Komposition des Finales keinen Zweifel, wenn er Orchester, Solist*innen und Chor im dreifachen Forte das Lob Gottes singen lässt. Die Musikwissenschaftlerin Susanne Damann verweist in diesem Zusammenhang auf Henrik Hertz’ Rezeption des deutschen Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, konkreter von dessen Überlegungen zum Wesen der Kunst. Schelling beschreibt in seinem Studium generale die Kunst als »eine Verkündigerin göttlicher Geheimnisse, die Enthüllerin der Ideen« – im idealistischen Verständnis also des Wesens der Dinge. Mit dem Sehen ist diese Wesensschau nicht vollzogen, vielmehr ist die sinnliche Wahrnehmung die Voraussetzung dafür, wahrzunehmen, was im Fall der wirklichen Kunst nach Schelling »aus dem Absoluten unmittelbar ausfließt«. Folgt man also Henrik Hertz zu Schelling, so muss Iolanta die sinnliche Wahrnehmung erlernen, um sich dem sinnlich nicht Wahrnehmbaren annähern zu können.
Das Mantra des Arztes Ibn-Hakia ist, dass Iolanta von ihrer Blindheit erfahren muss, um das Sehen wünschen und in der Folge erlernen zu können: »Bevor die sterblichen Augen dem Licht sich öffnen, muss die unsterbliche Seele diese Empfindung begreifen.« Susanne Damann weist auch in diesem Zusammenhang auf F. W. J. Schelling hin, den sie zitiert: Seele bedeute nicht Individualität, sondern ist im Gegenteil der Ort, an dem sich der Mensch »über alle Selbstheit erhebt, wodurch er (…) der Betrachtung des Wesens der Dinge, eben der Kunst, fähig wird.« Schelling wiederum äußert sich in seiner Vorlesung über die Philosophie der Kunst (1802–1803) äußerst lobend über
Baruch de Spinoza (1632–1677), dem er einen »Realismus in seiner erhabensten und vollkommensten Gestalt« zugesteht. Spinozas Parallelismus-Konzept, dem zufolge jeder Idee ein Gegenstand in der körperlichen Welt entsprechen muss, kommt der auf Henrik Hertz zurückgehende Monolog Ibn-Hakias sehr nahe.
Die philosophischen Ausführungen aus Hertz’ Drama behielt Librettist Modest Tschaikowski weitgehend bei. Auffällig ist der Ausbau des religiösen Moments für die Oper, der sich im Duett wie im abschließenden Dankeschor ausdrückt. Librettist Modest Tschaikowski gab seinem Bruder hier viele Gelegenheiten, seine verschiedentlich geäußerte spezielle Form des Gottglaubens musikalisch auszudrücken. »Gott braucht das Gebet nicht. Aber wir brauchen es«, schrieb Piotr Tschaikowski im September 1887 in sein Tagebuch.
Dankgebet und Dunkelheit
Modest Tschaikowski erreichte durch Kürzungen der historischen Hintergrundgeschichte und anderer Elemente der Vorlage nicht nur die gewünschte Einakterlänge, sondern schuf auch den nötigen Raum und die Zeit für die charakteristischen Solo- und Ensemblenummern: Iolantas Arioso am Beginn, das Ensemble- und Chorstück um Iolantas Freundinnen, das die Gartenszene etabliert, das düstere Arioso des Königs und Ibn-Hakias Monolog. Die beiden aufeinanderfolgenden romantischen Arien Roberts und Vaudémonts lassen Tschaikowskis Bestreben erkennen, auch den Solisten Gelegenheit zu geben, sich zu präsentieren. Die beiden Arien sind aber auch wichtig für die Charakterisierung der Figuren: Während Robert in seinem Sehnsuchtsgesang auf seine Geliebte Matilde als leidenschaftlicher Liebhaber der Sinnlichkeit ausgewiesen wird, beschwört Vaudémont in seiner »Romance« eine »reine« Liebe – die sich ihm kurz darauf in Gestalt Iolantas offenbaren wird. Diese Gegenüberstellung war übrigens ursprünglich gar nicht vorgesehen. Die »Romance« komponierte Tschaikowski erst im Oktober 1892 auf Wunsch des Uraufführungs-Vaudémont Nikolai Figner nach und legte sie als Nr. 6a in die fertige Partitur ein.
Piotr Tschaikowski setzte den Antagonismus von Finsternis und Licht in der Gegenüberstellung »dunkler« B-Tonarten mit dem triumphierenden C-Dur-Finale in Musik. Auf der »dunklen« Seite fällt neben dem Monolog Ibn-Hakias vor allem die ungewöhnliche, nur mit Holzbläsern und Hörnern besetzte Orchesterintroduktion auf, in der Tschaikowski mit harmonischen Verweisen auf Richard Wagners Tristan-Vorspiel spielt. Aber auch Iolantas melancholisches Arioso ist hier zu verorten, die Stelle, an der Tschaikowski die Ahnung, dass »etwas nicht stimmt«, musikalisch erzählt. Demgegenüber stehen die Anrufungen von »Gottes erstem ›Werde‹« im Duett zwischen Iolanta und Vaudémont und das angesprochene Finale. Die C-Dur-Explosion scheint keinen Widerspruch gegenüber dem unisono vorgetragenen Gotteslob zu dulden und ist von Tschaikowski als überwältigender Schlusspunkt gesetzt. Oder, in den Worten Eduard Hanslicks: »…worauf ein kurzer Preis- und Dankchor die Oper beschließt.«
Der legendäre Kritiker sah anlässlich der österreichischen Erstaufführung 1900 das Publikum »aufmerksam, mit mehr Andacht als Begeisterung«. Der Grund für die höfliche Reserviertheit des Kritikers ist auch in der Gegenüberstellung mit Eugen Onegin zu sehen, als dessen glühender Verfechter sich Hanslick wiederholt bekannte und demgegenüber er Iolanta bloß als »sorgfältige Arbeit eines vornehmen Künstlers« sah. Interessant an dem ebenfalls sorgfältig zu nennenden Aufsatz Hanslicks ist, dass er bei der Reflexion über weitere Erfolgsaussichten der Bühnenwerke Tschaikowskis
in Mitteleuropa vor allem die zu diesem Zeitpunkt wenig bekannten Ballette empfiehlt – darunter auch den Nussknacker.
»Iolanta«-Varianten
Piotr Tschaikowski selbst äußerte im fortschreitenden Kompositionsprozess gegenüber Modest die veränderte Wahrnehmung der beiden für die gemeinsame Aufführung entstandenen Werke:
»Solange ich das Ballett [Der Nussknacker, Anm.] komponierte, hielt ich es für unbedeutend und vertröstete mich auf die Oper, in welcher ich zeigen wollte, was ich noch kann. Und jetzt will es mir scheinen, dass das Ballett gut ist und die Oper – nichts Besonderes.«
Dass die Nachwelt das Ballett für »gut« befand, ist bekannt. Dass Tschaikowski mit Iolanta »etwas Besonderes« gelungen war, war dagegen über einen langen Zeitraum die Ansicht eines exklusiven Kreises, zu dem etwa Gustav Mahler zählte. Mahler hatte 1893 bereits die deutsche Erstaufführung in Hamburg initiiert und dirigiert, nur gut zwei Wochen nach der Uraufführung. Von der dortigen – glaubt man zeitgenössischen Kritiken – reservierten Aufnahme des Doppelabends (gemeinsam mit Leoncavallos Pagliacci) ließ der Künstler sich nicht beirren und brachte das Werk in seiner Eigenschaft als Wiener Hofoperndirektor im Jahr 1900 auch zu jener österreichischen Erstaufführung, über die Eduard Hanslick schrieb. Dass die folgende Aufführungsserie tatsächlich die bisher letzte an der Wiener Hof- und Staatsoper blieb, entspricht einem allgemeinen Trend: Während der Nussknacker seinen Siegeszug rund um die Welt antrat, wurde Iolanta außerhalb Russlands nur selten gespielt. Erst in den letzten Jahren wurde das Werk vor allem auch im deutschsprachigen Raum wiederentdeckt. Üblich geworden ist die Aufführung in Kombination mit einer zweiten einaktigen Oper, die Wiener Volksoper zeigte zuletzt eine unkonventionelle
Variante der Ursprungskombination mit dem Nussknacker.
Mit seiner Inszenierung an der Wiener Staatsoper wagt Regisseur Evgeny Titov nun einen ungewöhnlichen Schritt: Iolanta wird hier für sich alleine stehend zu sehen sein. In einem etwa 90-minütigen Abend will der Regisseur die Frage nach dem Wesen des Sehens wörtlich nehmen: »Was bedeutet es«, so Evgeny Titov, »wenn wir sagen: Wir nehmen alle Scheuklappen ab und blicken auf die Welt?« Wer Titovs Arbeiten kennt, weiß, dass dieser ungeschützte Blick auf die Welt eine bisher ungesehene, vielleicht auch ungedachte Variante des Märchens um die blinde Prinzessin zum Vorschein bringen könnte.