Die erschreckende Macht des Guten

Debüt |

Ein Porträt des Regisseurs Evgeny Titov anlässlich seines Debüts an der Wiener Staatsoper

Das Schönste ist die Probe – dass sich diese erstaunliche Theaterweisheit auch bei dem Regisseur Evgeny Titov bewahrheitet, mag zunächst erstaunen. Seine Arbeiten wirken nämlich wie lebendig gewordene Gemälde Alter Meister. Man kann sagen, es sind Gesamtkunstwerke, die ihre Pracht entfalten, wenn opulente Kostüme, kühne Bühnenarchitekturen und atemberaubendes Licht auf szenische Arrangements treffen, die in ihrer Formvollendung unweigerlich an den Goldenen Schnitt denken lassen. 

Die Darstellerinnen und Darsteller stehen im Fokus aller Blicke, und ihre Ekstase, ihr Schmerz und ihr Gelächter fluten von der Bühne herab in den Saal. So ist die tiefe Zerrissenheit von Wagners Tannhäuser, den Titov kürzlich an der Oper Graz inszenierte, förmlich mit Händen zu greifen, wenn sich der Protagonist aus der Tiefe eines von ihm selbst gegrabenen Kraters und gleichzeitig aus den Armen der Venus – die in der Interpretationen des Regisseurs eine kühle Kunstgöttin ist – zurück ins Leben singt. Es sind Momente wie diese, wenn die Vertikale sich plötzlich zu schwindelerregender Höhe öffnet, die Titovs Inszenierungen so faszinierend und überraschend machen.

Evgeny Titov hat sein Leben einer Bühnenkunst gewidmet, die es dem Publikum ermöglicht, den Alltag für eine Weile vollkommen hinter sich zu lassen. Ein Illusionstheater, welches das Leben nicht abbildet, sondern überhöht. Und deshalb ist es auch so ein Privileg, ihn bei der Probenarbeit zu beobachten. 

Er treibt die Sängerinnen und Sänger mit einer Energie an, die selten unter 120 Prozent liegt. Gespräche über die ineinander verschlungenen Wege der Figuren, über ihre Motivation und Haltung, wechseln sich ab mit großem Toben, Wüten, Leiden und Lieben, wenn Titov sich vor seinem Ensemble in den Staub wirft. Oft kann man diesen wunderbaren Moment des Verstehens beobachten, wenn Darsteller, die zum ersten Mal mit dem Regisseur arbeiten, begreifen, dass es nicht darum geht, ihn zu kopieren, sondern sich dem existenziellen Schmerz, der absoluten Verzückung einer Figur zu öffnen. 

Worte und Gesang sind ein wichtiges, aber nicht das einzige Ausdrucksmittel, und so nutzt Titov das eigene Spiel im Sinne einer Methode, um die Emotionen begreiflich zu machen, die wie Starkstrom durch einen Körper fließen und ihn formen können. Und er will auch demonstrieren, welche Höhe diese Emotionen haben können. Die »eigentliche Arbeit« beginnt, wenn sich der Darsteller oder die Darstellerin diesem Prozess öffnet und man dazu kommt, gemeinsam eine Rolle zu entwickeln.

»Vor einigen Jahren habe ich mir die Frage gestellt, was ein Regisseur eigentlich ist, und ich habe für mich eine Antwort gefunden: Der Regisseur ist derjenige, der das Wesentliche sieht – nicht alles, sondern nur das Wesentliche.«

Kein noch so kleines Detail ist Titov gleichgültig, er interessiert sich für die Farbe von Strümpfen, für die Geste einer Hand, den Verschluss eines Zigarettenetuis und den Winkel, in dem Licht ein Gesicht trifft, oder dafür, wie viel Patina auf eine Wand aufgetragen werden soll. In tausend kleinen Details und Begebenheiten während der Proben kann man bemerken, dass der Regisseur selbst lange auf der Bühne gestanden ist. 

Geboren in Kasachstan und ausgebildet an der Theaterakademie in St. Petersburg, arbeitete Titov über Jahre als Schauspieler, bevor er am Max-Reinhardt-Seminar in Wien Regie studierte. Warum er mit Ende Zwanzig emigrierte, ohne die deutsche Sprache zu kennen? »Ich entschied mich damals für den extremsten denkbaren Schritt«, sagt er. »In meiner Heimat hatte ich eine gute Karriere und viele Angebote, auch beim Film. Ich wollte mich aber weiterentwickeln, in Europa Regie studieren. Außerdem wollte ich raus aus Russland.« Den Schauspielberuf hat Titov seit seinem Wechsel ins Regiefach nicht mehr ausgeübt, weshalb es ihm durchaus etwas ausmacht, wenn Kritiker ihn gelegentlich in die Schublade »inszenierender Schauspieler« stecken.

Für die Psychologie der Figuren interessiert sich Evgeny Titov über die Maßen, er ist ein Geschichtenerzähler, wenn auch nicht im traditionellen Sinne. Seine Arbeiten gleichen vielmehr multidimensionalen Träumen, in denen die persönlichen Erfahrungen und Traumata einer Bühnenfigur sich mit Inhalten eines kollektiven Unbewussten mischen: In seiner Inszenierung von Shakespeares Macbeth am Düsseldorfer Schauspielhaus beispielsweise setzte der Regisseur ganz darauf, das Bösen aufzuschlüsseln, welches Macbeth und die Lady entfesseln – das Böse, dessen sie nicht mehr Herr werden, das Macht über sie gewinnt und schließlich ihre Welt in Dunkelheit taucht. 

Die berühmten drei Hexen agieren dabei als Projektionen aus den Tiefen der Psyche des Macbeth und der Lady. Lebende Konterfeis, die den Leidenschaften des mörderischen Paares folgen und die doch ein unheimliches Eigenleben entwickeln. Ganz so wie im Traum fließen bei Titov unwirkliche Bilder ineinander, dann wiederum werfen harte Cuts das Publikum unvermittelt von einer Situation in die nächste. Die Stringenz einer lückenlosen Erzählung ist ihm wichtig, aber der existenzielle Konflikt der Figuren fällt schwerer ins Gewicht: »Vor einigen Jahren habe ich mir die Frage gestellt, was ein Regisseur eigentlich ist, und ich habe für mich eine Antwort gefunden: Der Regisseur ist derjenige, der das Wesentliche sieht – nicht alles, sondern nur das Wesentliche.«

»Für seine Inszenierungen verschwendet und verbrennt sich der Regisseur in einem Maße, dass es manchmal erschreckend ist. Man könnte dies als Kunstbesessenheit bezeichnen: Es geht ihm um das im Entstehen begriffene Kunstwerk, um sonst nichts.«

Evgeny Titov hat seine ganz eigene künstlerische Handschrift entwickelt. Wenn man ihm zuhört und spürt, mit welcher Leidenschaft er erzählt und wie er sich für die Werke großer Komponisten und Schriftsteller begeistert, lässt sich leicht ermessen, wie er zuerst ein Ensemble und im Ergebnis dann auch ein Publikum mitreißen kann. Längst ist Titov nicht mehr nur am Sprechtheater gefragt, wo seine ersten Arbeiten entstanden, sondern gilt mittlerweile als neuer Stern am Himmel der Opernwelt – auch wenn er selbst solche Klischees nicht gern hört. Diese Entwicklung vollzog sich in einem atemberaubenden Tempo. 

Innerhalb von nur drei Jahren gab er sein Debüt an der Komischen Oper Berlin mit George Enescus Oedipe, inszenierte die Schweizer Erstaufführung von George Benjamins Lessons in Love and Violence sowie Claudio Monteverdis L’Orfeo am Opernhaus Zürich, Mozarts Le nozze di Figaro führte ihn an die Bayerische Staatsoper München, und jüngst feierte seine Inszenierung von Prokofjews Die Liebe zu den drei Orangen eine umjubelte Premiere an der Semperoper Dresden. »Die Oper war lebenslang mein Traum«, sagt Titov, dessen nächste Arbeiten ihn zu den Salzburger Festspielen, an die Opéra Comique in Paris und an das Royal Opera House Covent Garden in London führen.

Wer Evgeny Titov auch nur ein wenig kennt, der versteht, dass sein »lebenslanger Traum von der Oper« nicht auf eine beeindruckende Anzahl renommierter Häuser abzielt, nicht auf den Glanz, den prominente Sängerinnen und Sänger, Dirigentinnen und Dirigenten und Orchester einer Produktion verleihen können,  und schon gar nicht auf den eigenen Marktwert. Titov geht es einzig und allein darum, mit den besten Künstlerkolleginnen und -kollegen zusammenzuarbeiten, vorzugsweise mit solchen, die genauso beseelt von ihrer Arbeit sind wie er selbst. Für seine Inszenierungen verschwendet und verbrennt sich der Regisseur in einem Maße, dass es manchmal erschreckend ist. Man könnte dies als Kunstbesessenheit bezeichnen: Es geht ihm um das im Entstehen begriffene Kunstwerk, um sonst nichts.

Mit Iolanta gibt Titov nun sein Debüt an der Wiener Staatsoper. Tschaikowskis Märchenoper über eine blinde Prinzessin, die das Sehen lernen soll, mutet selbst wie ein surrealer Traum an: Eine Königstochter wird so weit von der Außenwelt abgeschirmt, dass keiner ihr verrät, wozu andere die Augen gebrauchen. Iolantas Vater hat ein immenses Lügengebäude um sie herum errichtet, dennoch ahnt die Prinzessin, dass ihr etwas Entscheidendes fehlt. Braucht es wirklich das Licht, um die Wahrheit zu begreifen, oder sieht man, wie Antoine de Saint-Exupéry es später formulieren sollte, »nur mit dem Herzen gut«? Der dänische Dichter Henrik Hertz, von dem die Vorlage stammt, entwirft eine Welt, in der die Liebe regiert, das Licht für alle leuchtet und die Lüge ausgedient hat. Eine Parabel über die erschreckende Macht des Guten, ein Paradox, wie gemacht für den Existenzialisten Evgeny Titov.

Als Student stand er an der Wiener Staatsoper Schlange, um ein Billet an der Abendkasse zu ergattern. Heute ist Evgeny Titov überall und nirgends zu Hause. Rasch wechselt er die Städte. Es ist ein anstrengendes Leben, oft ohne Rückzugsort und Zeit für sich, das bedauert der Regisseur bisweilen. Was ihm bei seinem Nomadendasein hilft, ist eine aus Erfahrung gewonnene Zuversicht: »Ich spüre, dass hinter mir Energien stehen, die mich leiten. Etwas führt mich, das weiß ich. Irgendjemand passt auf mich auf, damit ich das alles bewältige. Eine Inszenierung, das ist letztlich eine Spur im Sand, die wir hinterlassen, wenn wir an der Wasserlinie entlang spazieren. Die Wellen gehen darüber hinweg, bald ist sie verschwunden, und etwas Neues kommt nur, wenn man voranschreitet.«