Das zarte Pflänzchen Liebe

Saison 2024/2025 |

Julian Prégardien gibt als Tamino sein Hausdebüt

Die Zauberflöte treibt ihn seit jeher um: Als Kind wuchs Julian Prégardien in einer familienbedingten Musikwelt auf, lernte den Tamino über seinen Vater, den großen Tenor Christoph Prégardien, kennen, sang später einen der drei Knaben. Mit 18 bekam er sein erstes, wenn auch von ihm ausgeschlagenes, Tamino-Rollenangebot, mit 25 war es in Frankfurt dann soweit. Seitdem hat er die Partie international oftmals interpretiert, wie auch sein Name weltweit für feinsinnige, musikalische und zutiefst berührende Abende, die die lebensverändernde Kraft der Musik zeigen, steht. Vor seinem Staatsopern-Debüt in der neuen Zauberflöte sprach Oliver Láng mit dem Tenor über Taminos Verletzlichkeit, über spontane Liebe und warum die Zauberflöte die Vision von Hoffnung auf eine bessere Welt vermittelt.

Schätzen Sie den Probenprozess im Zuge einer Opernneuproduktion? Das Ausprobieren? Zueinanderfinden? Konkretisieren?

Julian Prégardien: Im Opernbereich unbedingt! Ich finde das sehr schön, dieses Ausloten von Möglichkeiten. Das Finden der Körperlichkeit von Figuren. Das Entdecken mehrerer Deutungsebenen. Und das Austauschen darüber. Denn was in meiner Figur vorgeht, hat einen großen Einfluss auf alle anderen Beteiligten. Darum sind Proben wichtig, spannend, anstrengend, und einfach Teil der Reise. Um dann am Ende gemeinsam etwas auf die Bühne zu bringen, das nach Möglichkeit immer noch nicht zu konkret ist.

Das Nicht-zu-Konkrete: Bezieht sich das auf Interpretationsaussagen, die getroffen werden? Dass Sie eben nicht feststellen wollen, Tamino ist für mich ein Bankbeamter und denkt so und so, sondern Sie sich und dem Publikum einen Freiraum in der Theatererfahrung lassen wollen?

Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Wir haben heute Morgen zum ersten Mal an der Sprecherszene gearbeitet. Da gibt es Sätze, die man in diese oder jene Richtung auslegen kann – sowohl emotional als auch inhaltlich. Und genau dafür bietet das Theater einen Raum. Auch wenn wir ein- und denselben Dialog in zahlreichen Vorstellungen noch und nöcher wiederholen, können wir an unterschiedlichen Abenden verschiedenen Facetten Raum geben. Das gilt sogar für Pausen! Ihre Länge, ob es ein absolutes Innehalten ist oder ein Prozess angesteuert wird: das kann variieren. Es gibt also eine Idee einer Richtung, aber keinen hundertprozentigen Plan. Gegen zu viel Festlegung verwehre ich mich.

Wenn Tamino in der »Bildnisarie« sich beim Gedanken, Pamina endlich gegenüberzustehen, fragt, was er dann eigentlich täte und in einer Generalpause landet – ist diese Pause ein Nachdenken seinerseits? Also: »Was würde ich?« Oder erschrickt er vor dem Gedanken, sie zu sehen?

Genau das ist die Frage! Und das möchte ich offenlassen, um jeden Abend aufs Neue zu schauen: Was ist denn heute meine Regung auf diese Frage? Ist das jetzt wirklich Liebe? Habe ich Angst vor der Liebe? Bin ich neugierig auf die Liebe? Dieses neue Gefühl – hat mir da schon einmal jemand davon erzählt? Ist es von mir ferngehalten worden? Und so weiter… Oder wenn Tamino singt: »O ewʼge Nacht« –
ein großer, intimer Moment. Mein Gott, was kann man da für Bedeutungen und Ängste anranken lassen! Muss man aber nicht. Man kann auch diese vier Töne so schön wie es nur geht singen und dann dem Zuschauer, der Zuschauerin selbst überlassen, was sie jeweils bedeuten. Das ist ja auch Teil der Aufgabe, dass wir nicht überdeuten und damit Deutung vorgeben. Sondern, dass da jemand im Publikum sitzt, der in sich selbst etwas deutet und in sich selbst etwas entdeckt. Im Grunde ist das die viel größere Aufgabe des Theaters.

Tamino verliebt sich in ein Bild. Wird da einfach eine Theatermechanik bedient, damit die Handlung weitergehen kann? Darf man sich darüber lustig machen? Oder spielen Sie diesen Moment einfach mit aller Kraft, um ihn glaubwürdig werden zu lassen?

Das Bildnis selbst ist nur ein Platzhalter. In Wahrheit geht es um einen außergewöhnlichen, kostbaren, heiligen Moment des Erkennens, der Liebe. Ich möchte so naiv und auch so persönlich sein dürfen und sagen: Ich habe diesen Moment mehrfach erlebt, jemanden nur einmal zu sehen und mich daraufhin in eine Liebe hineinzusteigern. In diesem Augenblick passiert so viel in Tamino. Vielleicht denkt er sich: So etwas habe ich noch nie gefühlt! Oder er fragt sich: Was fasziniert mich an dieser Person? Es geht bereits hier an dieser Stelle um das große Thema, die Metaebene der Zauberflöte: um die Liebe. Wie sagt Pamina? »Die Liebe leitet mich!« Ist das nicht eine wunderbar visionäre Aussage über die Qualität von Liebe? Oder sogar eine Vision einer idealen Welt? Eine Vision einer von Frauen geführten Welt!

»Wir sollten uns trauen, häufiger zu erzählen, was für ein tolles Potenzial im Menschen steckt. Die Schwierigkeiten, die haben wir in allen Jahren der Menschheitsgeschichte ohnedies schon ständig besprochen.«

Das steht im Gegensatz zu frauenfeindlichen Aussagen von Sarastro & Co.

Es heißt so oft, die Zauberflöte sei frauenfeindlich. Ich behaupte das Gegenteil! Denn eigentlich werden die Schwächen der Männer gezeigt: Der Held wird ohnmächtig, Papageno bringt derbe Sprüche, der Sprecher, Sarastro und die Geharnischten sind eine absurde Persiflage auf Machos. Kein schönes Bild, das wir da sehen!

Tamino ist an der Schwelle der Adoleszenz, emanzipiert sich von seinem Elternhaus, fällt in Ohnmacht, verliebt sich, singt betörend schön und macht sich auf die Reise. Er findet die Liebe, besteht Prüfungen. Kann man ihn so zusammenfassen?

 

Ja, er singt schon viel schön in der Oper. (lacht) Zunächst ist er ein Suchender, der Antworten für seinen Lebensweg braucht. Er ist ohne Orientierung und deswegen von beiden Seiten leicht manipulierbar. Ja, er weiß nicht einmal, wonach er eigentlich sucht, es ist wie die Sehnsucht nach der blauen Blume, dem Emblem der deutschen Romantik. Und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass Tamino an sich eine zutiefst romantische Figur ist – wie auch die Zauberflöte eigentlich keine Oper der »Klassik«, sondern ein Werk des 19. Jahrhunderts ist. In seiner Ahnungslosigkeit erinnert Tamino an den Eichendorff’schen Taugenichts oder an die Märchenfigur, die auszog, das Fürchten zu lernen. Auf alle Fälle darf er kein stereotyper Charakter sein, er ist also nicht nur ein Prinz mit Privilegien – diese Eigenschaft braucht er nur dramaturgisch, um sich von Papageno zu unterscheiden –, sondern hat ein großes Freundschaftspotenzial. Mit anderen Worten: Ein ganz liebenswerter Kerl, wenn man es schafft, ihn auf der Bühne von aristokratischer Arroganz zu befreien.

Aber nicht ganz so liebenswert wie Papageno. Wären Sie manchmal lieber der allgemeine Sympathieträger Papageno?

Mit Papageno und Tamino verhält es sich wie mit Don Giovanni und Don Ottavio. Fragen Sie Jugendliche, wer der Coole in Don Giovanni ist? Die Titelfigur! Von etwas Älteren hört man hingegen immer wieder, dass Don Ottavio dann doch viel besseres »Ehemann-Material« ist. Jedenfalls: Für mich als Künstler und Mensch Prégardien ist in der Zauberflöte natürlich Tamino die Identifikationsfigur. Wobei ich selbstverständlich auch entsprechend geprägt wurde. Denn ich bin nicht nur Sänger, sondern bin mit dieser Figur des Tamino regelrecht aufgewachsen. Bei uns zu Hause lag im Wohnzimmerschrank die Debüt-Zauberflöte meines Vaters, die er nach seinem Tamino in Gelsenkirchen geschenkt bekommen hatte. Die Rolle war für mich immer präsent, seit 35 Jahren bin ich im Dialog mit ihr, ich habe sie unter anderem in Frankfurt gesungen, in Paris, München und Berlin. Szenisch und konzertant, ich habe viel über sie nachgedacht und viel mit anderen gesprochen. Sie ist Stück meines Lebens, meiner Entwicklung als Mensch, meiner Entwicklung als Künstler, meiner Entwicklung als Tenor.

In den vielen Jahren hat sich Ihr Tamino-Bild aber deutlich verändert, oder?

 

Und wie! Und damit meine ich nicht nur die Tamino-Bühnenfotos, die ich mit 25 gemacht habe. (lacht) Meine Sicht auf diesen Charakter ist heute eine ganz andere.

Inwiefern? Ist er heute noch mehr ein Suchender? Weil man mit 25 ja immer denkt, die Welt verstanden zu haben und sich mit fortschreitendem Alter mehr und mehr Fragen übers Leben auftun.

 

Er sucht extremer! Also mit stärkeren Impulsen, mit mehr Potenzial, auch mehr Potenzial, gegen die Wand zu rennen. Und mit einer größeren Fallhöhe, aber weniger Naivität. Ich finde stets etwas Unerwartetes in diesem Charakter. Auch deswegen ist die Zauberflöte so ein absolutes Wunderwerk, so ein unfassbares Stück: weil man mit ihr einfach nicht fertig wird und immer etwas Neues entdeckt.

Mozart hat Rollen bekanntlich ganz bestimmten Sängerinnen und Sängern auf den Leib geschneidert. Die Partie des Tamino schrieb er für seinen guten Freund Benedikt Schack. Wie verhält es sich in diesem Fall mit den stimmlichen Anforderungen?

Schack muss ein ungemein begabter, vielseitiger Sänger gewesen sein, weil die Anforderungen manchmal heldisch, manchmal lyrisch, manchmal sehr erzählend sind. Das große dramatische Rezitativ verlangt einem Tamino sehr viel ab. Was mir natürlich sehr zugutekommt, ist, dass die Zauberflöte in deutscher Sprache ist. Ich kann mit keiner anderen Sprache so gut umgehen, es ergibt sich eine ganz besondere Tiefendurchdringung, was die verschiedenen semantischen Ebenen angeht.

Und die berühmte »Bildnisarie«? Ist sie so heikel, wie man hört? Nicht umsonst ist sie ein Pflichtstück bei Chorvorsingen an der Wiener Staatsoper.

Ich würde fast fragen, ob es überhaupt eine Arie ist? Denn es gibt keine offensichtliche Bravour, nichts Virtuoses, nichts für den Effekt, sondern alles ist ins Innere gekehrt. Eigentlich beinahe ein Lied. In Mozarts Schaffen fast nur mit »Dalla sua pace« aus Don Giovanni zu vergleichen, auch da handelt es sich um einen so ungeheuerlich intimen Moment: Ein Mensch ist alleine auf der Bühne und reflektiert. Das ist für mich in Opern oftmals der stärkste Moment im Kontrast zur großen Dramatik. Die Herausforderung, die ich mir mit »Dies Bildnis ist bezaubernd schön« also stelle, ist, dass es nicht zu sehr nach großer Arie klingt. Es muss unschuldig sein und trotz der exponierten Lage auch etwas Verletzliches haben. Denn Tamino versteht nicht, was in ihm vorgeht. Und auch wenn es sich anbietet, viele der Töne mit großer Stimme zu singen, finde ich das oft nicht ratsam. Bei den letzten zwölf Takten etwa steht dezidiert »piano« in den Noten, die Begleitung dazu ist ungemein luftig. Ich hoffe, dass ich mich traue, diese Musik auch in so einem großen Haus wie der Wiener Staatsoper mit dieser besonderen Auratik zu singen, im Sinne von: Hört zu, was in mir vorgeht. Und nicht: So toll kann ich für euch singen!

Sie sprachen über die Liebe als Thema dieser Oper und von der Vision einer besseren Welt. Ist die Zauberflöte also ein hoffnungsvolles Stück?

 

Die Zauberflöte ist einzigartig in Mozarts Schaffen: Es gibt die Liebe, die es möglich macht, sogar einem zerrütteten System zu entkommen. Und das Beste: Selbst Sarastro und die Königin der Nacht erkennen das! Erkennen, dass Tamino und Pamina das Potenzial haben, eine bessere Welt zu begründen. Mit diesem kleinen, zarten, grünen Pflänzchen Liebe. Und mit Vertrauen. Das ist das eigentlich Visionäre und Hoffnungsvolle: Dass die Liebe zwischen zwei Menschen ein Keim mit ungeheurem Potenzial ist. Das ist ein christliches Bild, ein spirituelles Bild, ein wunderschönes organisches Bild. Jetzt müssen wir nur noch wagen, das Großartige dieses Gedankens zu sehen und nicht immer die Probleme. Wir sollten uns trauen, häufiger zu erzählen, was für ein tolles Potenzial im Menschen steckt. Die Schwierigkeiten, die haben wir in allen Jahren der Menschheitsgeschichte ohnedies schon ständig besprochen. Und die Gefahren, die der Mensch in sich birgt. Reden wir jetzt doch einmal über die Hoffnung!