Cyril Teste im Interview – Gedanken und Interpretation zur Inszenierung
Saison 2022/2023 |
Cyril, Du bezeichnest Salome immer wieder als das Porträt einer Familie. Könntest Du diesen Gedanken ausführen?
Das Drama der Salome ist das Kapitel einer Familientragödie, und die Ausgangssituation weist überraschende Parallelen zu Hamlet auf: Die Mutter hat in zweiter Ehe den Mann geheiratet, der den Vater ihres Kindes umgebracht hat, und der zugleich der Bruder ihres ersten Mannes ist. Das ist sehr elisabethanisch. Wir konzentrieren uns vor allem auch auf die Erkundung dieser Familienstruktur.
In der Librettofassung wird das Schicksal von Salomes leiblichem Vater nicht mehr erwähnt. Warum ist es für Deine Analyse wichtig?
Bei Wilde erfahren wir, dass Salome 14 Jahre alt war, als ihr Vater getötet wurde. Jochanaan wird in derselben Zisterne gefangengehalten, in der auch ihr Vater zwölf Jahre schmachtete. Sie hat ihren Vater also kaum gekannt. Wenn sie die Stimme Jochanaans hört, die durch die Gitterstäbe der Zisterne dringt, dann beschwört das die Erinnerung an die Klageschreie ihres Vaters herauf. Wenn Salome die Zisterne mit einer Gruft vergleicht, bezieht sie sich auf den Mord an ihrem Vater, der auf Herodes’ Geheiß erdrosselt wurde. Jochanaan ist der einzige Mann, der Salome nicht ansieht, und zugleich der einzige Mann, der sie auf eine gute und richtige Weise ansieht, so wie ihr Vater sie angesehen hätte. Jochanaan öffnet etwas sehr Machtvolles in Salome. Es geht um die Liebesgeschichte eines Kindes, das falsch oder zu viel geliebt wurde, wie Herodes selbst einräumt. Zur Zeit des Herodes konnte man 14jährige Kinder heiraten, Herodes deutet diese Möglichkeit sogar an. Im Jahr 2023 konfrontiert uns das Stück mit einer anderen Problematik, die wir nicht akzeptieren dürfen.
Das Thema des Festmahls ist bei Dir zentral. Dafür hast Du ikonographische Recherchen betrieben und das Motiv des Kannibalismus entdeckt.
Der Mund nimmt eine zentrale Rolle ein: der Mund, aus dem die die Worte der Rede dringen, aber auch der Mund, der isst und die Nahrung aufnimmt. Im Stück stehen immer wieder Früchte und Weine im Fokus. Salome wird am Ende als letzten Gang das Haupt des Jochanaan auftragen und entstellt so eine Gesellschaft von Kannibalen zur Kenntlichkeit, in der man sich gegenseitig verschlingt, obwohl man zunächst eine äußerlich perfekte, kultivierte Abendgesellschaft zu erleben glaubt. Das Gastmahl spielt eine Hauptrolle, wie in Fanny und Alexander von Bergman, wo sich unter der scheinbar gelösten Oberfläche einer Festgesellschaft ein menschliches Drama anbahnt.
Was bedeutet das für die Ästhetik der live eingefangenen, aber auch vorproduzierten Bilder der Video-Kamera in Deiner Aufführung ?
Ich möchte, dass die Bilder, die wir produzieren, zu uns sprechen, sich gewissermaßen an unser Gehör wenden. Ein Bild muss zu mir sprechen, das ist meine Überzeugung, es soll nichts zeigen, nichts abbilden. Das Porträt Salomes und das Porträt ihrer Familie filtere ich durch den Blick des Kamera-Auges, vor allem den Tanz der sieben Schleier. Wir befinden uns auf einem diplomatischen Bankett, auf dem durch eine Fotografin und einen Kameramann Bilder für die Öffentlichkeit produziert werden. Und das benutzt Salome, indem sie die Blickrichtung umkehrt. Sie benutzt das Bild als Waffe, um aller Welt jene Blicke zu zeigen, denen sie preisgegeben war. Die Rechnung ist offen zwischen Herodes und Salome, beide rücken in den Kamerabildern zu nah aufeinander, wir sehen, wie seine Hand die ihre sucht. Das ganze Stück beginnt mit dem Protest der jungen Frau »Warum sieht mich der Tetrarch fortwährend so an?« und es endet damit, dass Herodes ihren Anblick nicht mehr erträgt und befiehlt, sie zu töten. Jochanaan hingegen wird von der Kamera nicht erfasst. Gilles Deleuze hat den wunderbaren Satz gesagt: »Jedes close-up ist Zärtlichkeit/Zuneigung.« Genau diese Nähe und Zärtlichkeit, im wohlmeinendsten Sinne, müssen wir finden im Umgang mit Salome. Die Kamera hilft uns dabei, Salome so schön zu zeigen wie möglich. Kein einziges Bild, das wir von ihr zeigen, will Übles.
Vieles, was Deine Kunst ausmacht, wird im Gesagten bereits deutlich. Es geht in Fragen der Kunst ja nie direkt um das »was« sondern immer um das »wie«, das macht es schwer, über Kunst zu sprechen, man verständigt sich meist nur über sogenannte Inhalte. Mallarmé hat gesagt, ein Gedicht wird nicht aus Ideen, sondern aus Worten geschaffen. Wie realisierst Du Deine Ideen künstlerisch? Die Worte, mit denen Du arbeitest, sind die Parameter des Theaters, Raum, Licht etc., vor allem aber der Körper und die Fantasie der Darsteller. Ich beobachte, wie Du den körpersprachlichen Ausdruck der Mitwirkenden neu kalibrierst, ihn von falschen Konventionen zu reinigen suchst und einen Nullpunkt anstrebst, um zu einer anderen Glaubwürdigkeit vorzustoßen.
Oft kommen die Darsteller mit einer fertigen Idee zur Probe. Meine Arbeit besteht zunächst darin, diese Ideen zu dekonstruieren. Unsere Aufgabe am Theater ist es nicht, zu erklären, sondern zu verstehen. Entscheidend ist, dass alle Mitwirkenden begreifen, dass es um eine nicht abgeschlossene gemeinsame Erkundung, einen kollektiven Erfahrungsprozess geht.
Wie findest Du zur Form?
Ich weiß vor Beginn der eigentlichen Probenarbeit nicht genau, was ich erzählen werde. Denn das ist abhängig von den Darstellern. Sie geben mir die Energie, aus der meine Aufführung ent- steht. Ich bin nur der Kartograph, die Sänger sind es, die in das Dickicht des Waldes hineingehen und es durchdringen. Man muss dabei auch den Zufall zulassen. Der Zufall ist ein großer Dramaturg. Jetzt, drei Wochen nach Probenbeginn, beginne ich – vielleicht – zu verstehen. Das Theater ist kein Bild, sondern etwas Lebendiges. Nur indem man es erlebt, kann man es verstehen.
Kannst Du uns die Arbeitsweise des Theaterkollektivs MxM erläutern, dessen Mitglied Du bist?
Das Kollektiv ist ein großes Team von rund 35 Leuten, das Schauspieler, Dramaturgen, Videokünstler, Techniker usw. umfasst, jeder hat dabei seinen ganz bestimmten Arbeitsbereich. Im Grunde ist es ein selbständiger mobiler Theaterbetrieb und die Theaterproduktionen entstehen in gemeinsamer und hermetischer Interaktion, daher zeichnet auch das Kollektiv für sie verantwortlich. Wenn wir in der Oper arbeiten, öffnen wir uns zu anderen personellen und institutionellen Strukturen, daher ist das Ergebnis keines, das vom Kollektiv insgesamt erarbeitet wird. Und darum firmiere ich hier als Regisseur im klassischen Sinn. Unverändert ist, dass ich abhängig bin von Mitarbeitern, die Dinge in Frage stellen und mich auf Dinge aufmerksam machen, die mir entgangen sind. Letztlich geht es auch hier um das gemeinsame, kollektiv geteilte Abenteuer.