Christian Gräfe im Gespräch - Eine Parabel über die Liebe

Saison 2023/2024 |

Regisseur Christian Gräfe beschreibt, wie das Turandot als Parabel funktioniert.

In einem exklusiven Interview spricht er über die Inszenierung der Oper als vielschichtige Reise zwischen Traum und Realität und über die Herausforderung, große Emotionen authentisch und ohne Klischees auf die Bühne zu bringen.

Im Libretto der Oper Turandot heißt es: »Die Handlung spielt zur Märchenzeit.« Was bedeutet das für dich?

Christian Gräfe Eine erfundene Zeit. Für mich ist der Begriff »Parabel« zutreffender als »Märchen«. Wenn man das Werk mit purem Realismus auf die Bühne zu bringen versucht, landet man schnell in einer Sackgasse. Turandot ist, anders als z.B. La bohème, eine Parabel fernab des »Verismo«. Im Kern geht es darum, wie ein junger Mann – über den wir nichts wissen, außer dass er auf der Flucht ist – in eine Welt hineinstolpert, deren Gesetzmäßigkeiten er nur bruchstückhaft begreift. Wie in einem schlechten Traum. Er hat sich anlocken lassen von dem Mythos um die Herrscherin eines Reiches. Sie scheint einer Legende entsprungen. Keiner hat sie je von Nahem gesehen; alle seine Vorgänger wurden geköpft, weil sie die Rätsel nicht lösen konnten. Turandot ist anfangs ein Sehnsuchtsbild des »unbekannten Prinzen«, wie er in der Partitur genannt wird, eine Fiktion, der er erlegen ist. Er lernt zunächst ein System kennen, und zwar von seiner brutalsten und grotesken Seite. Hinzukommt seine Verstrickung mit der eigenen Vergangenheit: Er findet unverhofft seinen Vater (Timur) und eine Frau, die ihn liebt (Liù), ihm aber kein Begriff ist. Und das alles in stark komprimierter Form, wie ein Kondensat der Existenz.

Als Ortsangabe ist »Peking« angegeben … doch ich glaube, spätestens seit der Aufführung am »Originalschauplatz«, also der Verbotenen Stadt, ist klar, dass man nicht weit kommt, wenn man das wörtlich nimmt.

cg Das halte ich in der Tat für ein großes Missverständnis. Seit Generationen arbeiten sich Bühnenbildner an verschiedensten Illustrationen dieses Ortes ab. Aber darum geht es für mich gar nicht. Puccini brauchte zum Komponieren einen Auslöser, und er war sehr geschickt darin, immer wieder einen solchen Trigger für sich zu finden. Für China hat er sich meines Erachtens nur insoweit interessiert, als er auf bestimmte harmonische Gegebenheiten und Motive zurückgreifen konnte, die man mit chinesischer Musik assoziiert: ein kompositorischer Zugriff, der durch die Exotik vor allem eine gewisse Fremdheit erzeugt.  An diesem Punkt wird es für mich interessant. Denn das hilft, das Werk ein Stück weit von uns weg zu rücken und den Blick darauf zu lenken, worum es eigentlich geht: Weniger um opulentes Ausstattungstheater als um urmenschliche Organisationsformen des Zusammenlebens und ihre Wurzeln.

Wenn ich die Oper anschaue, erscheint es mir, als ob darin drei verschiedene Geschichten erzählt werden: einmal die von Calaf, dann die von Turandot, die überhaupt erst im zweiten Akt auftritt, und schließlich eine Geschichte über die Manipulierbarkeit der Menge. Für welche der drei Geschichten interessierst du dich?

cg Ich möchte im ersten Akt die Geschichte Calafs erzählen, der in die Mühlen eines Systems gerät. Wie erlebt er dieses System? Im zweiten Akt erzähle ich, was Turandot erlebt. Das heißt, die Perspektive wechselt. Sie spricht davon, was ihrer Ahnin »vor tausenden von Jahren« zugestoßen ist. Aber für mich ist deutlich erkennbar, dass es dabei um eigenes Erleben gehen muss; um ein Ereignis, das sie als fremdbestimmten Übergriff erlebt hat, wobei es für mich sekundär ist, durch wen. Entscheidend ist: Wir sehen einen verstörten, verletzten Menschen. Ich möchte zeigen, mit welch gewaltigem Aufwand sich Turandot davor schützt, erneut zum Opfer zu werden. Dadurch gerät sie in die Rolle des Täters. Wenn man in sie hineingeschaut hat, versteht man rückwirkend das System, auf das Calaf im ersten Akt trifft. Der zentrale Begriff ist für mich »Angst«. Die Angst des Individuums greift auf die Gesellschaft über und bestimmt das System: Angst davor, verletzt zu werden, schwach zu sein. Im dritten Akt geht es dann darum, wie das Paar Turandot-Calaf zusammenkommt – eine veritable Liebesgeschichte zwischen zwei modernen Menschen, die ich sehr ernst nehme. Bevor sie zueinanderfinden können, müssen beide erst mit sich ins Reine kommen. Dabei kann der jeweils andere helfen. Gerade heute, wo viele Menschen von einer Beziehung in die nächste schlittern, gibt es häufig schlechte Erfahrungen, Erlebnisse aus der Vergangenheit, die nicht einfach weggewischt werden können. Diese Liebesgeschichte bleibt in Aufführungen der Oper häufig unterbelichtet. Man nimmt immer Liù als Verkörperung der Liebe wahr, während die Titelfigur als die kalte Frau gezeigt wird, die am Schluss eine schwer nachvollziehbare Wandlung durchmacht. Ich möchte Liù mehr als Trägerin einer Funktion auffassen; sie steht mit ihrem Handeln für eine Idee, die in Calaf und Turandot Veränderungen hervorruft. Als Figur empfinde ich sie eher als Konstrukt – trotz der ergreifenden Musik, die Puccini für sie geschrieben hat.

Wenn man die Liebesgeschichte zwischen Calaf und Turandot zeigen will, kann man nicht mit dem Tod Liùs und der darauffolgenden Trauermusik enden, wie das in Inszenierungen hin und wieder geschieht – in Anlehnung an die Uraufführung, bei der Arturo Toscanini an dieser Stelle den Taktstock niedergelegt hat. Wie gehst du mit der Problematik um, dass Puccini den Schluss nicht mehr selbst zu Ende komponiert hat?

cg Ich muss gestehen, dass ich darüber nicht so sehr stolpere. Franco Alfano hat das – in seiner ursprünglichen Version, die als »Alfano 1« bekannt ist – sehr geschickt gemacht. Er hat Puccini weitergedacht und den Schluss organisch komponiert. Die Euphorie am Ende steht für mich dafür, dass es möglich ist, zu einem anderen Menschen vorzudringen. Dieser Mut zu großen Gefühlen fasziniert mich. Hier wendet sich das Geschehen wieder ins Traumhafte. Das Pompöse des Finales finde ich unter diesem Aspekt interessant, denn es entsteht ein Gegensatz: Das Paar hat gerade erst zueinander gefunden und wird nun sofort an die Öffentlichkeit – ins Funktionieren – gezerrt.

Der erste Akt arbeitet mit harten Schnitten und abrupten Wechseln in der Stimmung der Menge, fast im Sinne einer Filmdramaturgie. Der zweite Akt fokussiert im Gegensatz dazu auf eine durchgehende Situation, nämlich die Rätselprobe. Im dritten Akt ist die Erzählstruktur wieder stärker episodisch, bis die Handlung dann in das Duett der beiden Protagonisten mündet. Wie kann man vom Bühnenbild her auf diese heterogene Anlage reagieren?

cg Wir haben uns entschieden, den Chor quasi vor die Spielfläche zu platzieren, wodurch die Dynamik seiner Interventionen akustisch sehr stark zu erleben ist. Gleichzeitig rücken wir szenisch die beiden Hauptfiguren in den Mittelpunkt. Ihre Geschichte geht in dem »Wimmelbild«, das durch die Dramaturgie des ersten Aktes entstehen kann, leicht verloren. Von daher ist der Chor in seiner Gewalt bei uns enorm präsent, teilt aber nicht dieselbe Bühne mit den Protagonisten. Wir gehen von einem öffentlichen Ort aus, einer Art Vorraum. Man sieht die Tür, zu der es den Prinzen mit aller Macht hinzieht, aber er wird noch nicht vorgelassen. Im zweiten Akt befinden wir uns dann im intimsten Bereich von Turandot: in ihrem Schlafzimmer, also auf der anderen Seite der Tür – wo ihr Trauma seinen Ursprung hat. Hier ist der Chor akustisch präsent, aber visuell nicht wahrnehmbar. Dadurch wird er zum Echo der Haltungen, die die Hauptfiguren einnehmen. Indem Calaf alle drei Rätsel löst, entsteht ein Machtvakuum. Das erleben wir im dritten Akt. Wohin driftet dieser Staat? Wie es häufig geschieht, richtet sich die Gewalt in der Orientierungslosigkeit nach innen. Es herrscht Chaos. Von einer überdeterminierten staatlichen Ordnung kippt es in die völlige Unordnung. Von der Tektonik des Raums her hat eine Verschiebung stattgefunden. Die Koordinaten sind verrutscht. Die Schauplätze lassen sich nicht mehr voneinander trennen. Das Vorzimmer und das Schlafzimmer sind eins geworden, der Ort, an dem im ersten Akt der Chor platziert war, ist plötzlich zu einem intimen Ort geworden. Erst aus der Auflösung kann etwas Neues entstehen, was sich dann im Liebesduett vollzieht.

Es gibt drei Figuren in der Oper, die aus der Commedia dell’arte herkommen: Ping, Pang und Pong. Sie stammen aus der Vorlage von Carlo Gozzi, wurden von Puccini jedoch anders gestaltet. In ihren Szenen kommen musikalisch am deutlichsten »exotische« Elemente zum Tragen. Zu Beginn des zweiten Aktes werden sie uns dann ganz nahgerückt. Wie gehst du mit diesem Trio um, das auch ein komisches Element hereinbringt?

cg Das ist sehr schön gebaut von Puccini. Wir erleben sie in unserer Interpretation zunächst als eine Art Ober-Beamte in einem ameisenhaften System. Sie nehmen ihre Aufgabe fast zu ernst und sind darin völlig gefangen. Ins Komische rutschen sie durch ihre Akkuratesse. Zu Beginn des zweiten Aktes sieht man sie dann »unter sich«. Das ist wie ein Blick hinter die Kulissen – des Systems wie auch dieser drei Figuren. Wir erkennen, wie sehr sie unter der Rolle, die sie spielen müssen, leiden. Sie formulieren triviale, sehr menschliche Sehnsüchte und werden dadurch real. Als ob sie die Masken abnehmen: Gerade diese drei hochartifiziellen Geschöpfe werden plötzlich als private Individuen fassbar. Doch dann werden sie zurück zu ihrer Pflicht gerufen. Im weiteren Verlauf des zweiten Aktes und im dritten erleben wir sie dann anders, nachdem wir gesehen haben, wie verhasst ihnen das System ist. Auch wenn sie sich das nicht anmerken lassen, denken wir es als Zuschauer jetzt mit. Das ist wie ein Exkurs: eine ganz eigene, berührende kleine Geschichte. Das automatische Funktionieren führt dazu, dass sie das System nicht verlassen können.

Es gibt erklärte Puccini-Verächter, die seine Musik als sentimental kritisieren. Was würdest du auf solche Urteile antworten?

cg In meiner Sozialisation als Theatermann war ich häufig mit Haltungen dieser Art konfrontiert. Als ich dann einige von Puccinis Opern selbst erarbeitet habe, ist mir klargeworden, was für einen unfassbaren Theaterinstinkt er hat. Er bringt die Dinge, die er darstellt, punktgenau zum Brennen. Die Emotionen sind für mich nicht unecht. Wenn es so wirkt, liegt das an der Gestaltung. Von der Idee her ist Puccini sehr wahrhaftig; und darin enorm wirkungsbewusst. Dafür gehen wir doch in die Oper: Es geht um große Gefühle; da kann man nicht mit angezogener Handbremse fahren. Als Regisseur hat man die Verantwortung, es von der wahrhaftigen Seite her zu fassen zu kriegen – und das geht nur mit großen Künstlerpersönlichkeiten als Darstellern. Man darf keine Klischees bedienen und leere Formen wiederholen. Vielleicht muss man dafür erst einmal Distanz schaffen, um den Bogen dann wieder zurück ins Zentrum zu schlagen. Ich empfinde es manchmal geradezu als tragisch, dass ich kaum eine Musik so sehr verehre wie die von Puccini, andererseits aber im Theater kaum eine Aufführung so sehr verachte wie eine unehrliche Interpretation seiner Werke – angefangen bei den verlogenen Künstlerklischees in La bohème, die seit Jahrzehnten repetiert werden, bis hin zu Erzählweisen bei Madama Butterfly, die wir heute als hochproblematisch empfinden müssen. Man tut Puccini keinen Gefallen, wenn man seine Verortungen der Stücke zu wörtlich nimmt –
die Welt hat sich verändert, aber die Nöte und Sehnsüchte der Menschen darin, denen verschafft er Gehör.

© Wiener Staatoper / Michael Pöhn
© Wiener Staatoper / Michael Pöhn
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