Ballett-Premiere von »Pathétique«
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Der Ballettdirektor und Chefchoreograph des Wiener Staatsballetts hat sich zu diesem Anlass erneut in einen kreativen Prozess mit den Tänzer*innen seines Ensembles begeben und ein großformatiges Ballett zu Piotr I. Tschaikowskis 6. Symphonie geschaffen, das er auf zwei Ikonen der New Yorker Tanzmoderne treffen lässt: George Balanchines duftiges Mozart-Ballett Divertimento Nr. 15 aus dem Jahr 1956 und Merce Cunninghams sprung- und drehfreudiges, ebenfalls den Kontakt zu den Lüften suchendes Tanzstück Summerspace von 1958.
Ein besonderes Highlight eröffnet die Premiere für Kunstfreunde: den Bühnen- und Kostümentwurf zu Summerspace schuf Robert Rauschenberg, der 2025 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Vor allem für seine als Combines bezeichneten Objekte bekannt, war der Wegbereiter der amerikanischen Pop Art in über 20 gemeinsamen Projekten auch ein enger Partner des amerikanischen Choreographen.

»Ich versuche, interessante Proportionen der Bewegung in Zeit und Raum zu finden, denn Musik ist Zeit. Es ist nicht die Melodie, die zählt, sondern die Zeit, die sie dir gibt«, sagte George Balanchine einmal über sein choreographisches Arbeiten. Divertimento Nr. 15 ist eines der wenigen Ballette, die Balanchine auf ein Werk Wolfgang Amadeus Mozarts schuf. Ganz aus der Musik – Mozarts Divertimento B-Dur KV 287 – geboren beschwört es aufs Schönste den Geist des Divertissements, ursprünglich geschaffen, um zu unterhalten.
Der kammermusikalischen Partitur entspricht eine ausgewählte Ensemblebesetzung mit fünf Solistinnen, drei Solisten und einem Corps de ballet aus acht Tänzerinnen für eine Choreographie, in der Balanchine mit raffinierter Zartheit vielfältige geometrische Muster in den Raum schreibt und zugleich seine Tänze aber mit großer Kraft, virtuosem Verve und individuellem Charakter in den einzelnen Variationen entfaltet.

Mit Summerspace kommt – nach der Premiere seiner Duets 2022 in der Volksoper Wien – erstmals ein Werk Merce Cunninghams mit dem Wiener Staatsballett in die Wiener Staatsoper. Kein anderer Choreograph hat die Selbstverständlichkeiten der Tanzkunst so radikal in Frage gestellt wie Cunningham mit seiner Aufhebung der Beziehungen zwischen Bewegung, Musik sowie Bühnen- und Kostümdesign, der Entwicklung einer Tanztechnik, die neue Verbindung zwischen den Teilen des Körpers schafft, oder der Befreiung von traditionellen Vorstellungen des Theaterraums.
In Summerspace scheinen in der gelösten Atmosphäre eines lauen Sommertags sechs Tänzerinnen und Tänzer über einem imaginären Koordinatensystem wie Vögel über die Bühne zu fliegen. »Es geht um Raum, wie der Titel schon sagt«, erläuterte Cunningham. »Ich nummerierte die Bühnenzugänge (...) und zeichnete alle dazwischen möglichen Verbindungswege auf.« Dies ergab 21 Möglichkeiten, für die er unterschiedliche Formen der Bewegung definierte und deren Abfolge und Tempo nach dem Zufallsprinzip der Aleatorik festlegte. Neben Robert Rauschenberg, der mit seinem Bühnen- und Kostümentwurf eine pointillistische Blütenlandschaft schuf, konnte er auch für die musikalische Partitur einen herausragenden zeitgenössischen Künstler gewinnen: Morton Feldman komponierte eine atmosphärische Musik für zwei Klaviere.
Martin Schläpfer beschließt mit seiner Uraufführung Pathétique eine Serie von zehn, teils abendfüllenden Werken, die er als Chefchoreograph seit 2020 für die Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts und der Jugendkompanie kreiert und damit dem Ensemble ein unverwechselbares künstlerisches Profil verliehen hat. Mit Piotr I. Tschaikowskis Symphonie Nr. 6 h-Moll op. 74 hat Martin Schläpfer sich eine Komposition als musikalische Basis gewählt, die von emotionalen Höhenflügen ebenso geprägt wird wie von krassen Abstürzen und tiefer Melancholie. Es ist eine tönende Seelenlandschaft und doch weit über rein autobiographische Züge hinausweisende Komposition, in deren Strudel sich Martin Schläpfer mit tänzerischen Bildern voller Dramatik, Kraft, aber auch einer unter die Haut gehenden Fragilität und Schönheit hineinbegibt.
Reminiszenzen an Tschaikowskis Biographie, Echos aus seinen großen Balletten, Bilder aus der Historie Russlands und Reflexionen über unser Zeit lädt der Choreograph wie in einer Druckkammer auf und katalysiert sie durch seine Bewegungssprache zu einem tänzerischen Weltenpanorama. »Tschaikowskis Pathétique ist eine Komposition wie ein Roman und trotz allem, was man in sie hineingelesen hat, ein Rätsel«, so Martin Schläpfer. »Musik, die uns wie ein Wasser umspült, in welchem wir versinken, und dann voller Virtuosität, brillanten Tempi, einem großen Spektrum an Dynamiken und einem faszinierenden Melodienreichtum aber auch wieder emporträgt«, so Martin Schläpfer, der das Werk mit einer Befriedung schließt – einem ungewöhnlichen Epilog, der von Georg Friedrich Händels Arie Süße Stille HWV 205 getragen wird: Imagination einer, so der Arientext, »Ruh ..., die uns ewig ist bereit«.