Drei Rätsel stellt Turandot. Drei Minister warnen vor dem Tod, der denjenigen erwartet, der an den Rätseln scheitert. Und drei Künstler versuchten sich daran, Giacomo Puccinis unvollendetes Werk im Sinn des verstorbenen Komponisten zu Ende zu bringen.
Als Calàf, der entthronte und nach Peking geflohene mongolische Prinz, sich in Prinzessin Turandot verliebt, begibt er sich in tödliche Gefahr: Denn nur, wer die drei Rätsel der Prinzessin löst, kann ihr Bräutigam werden. Wer scheitert, wird hingerichtet – wie alle bisherigen Bewerber. Calàfs Vater Timur und Liù, die Calàf ohne sein Wissen liebt, beschwören ihn umsonst.
Er nimmt die Herausforderung an. In der Partitur des großen Musik- Erzählers Puccini stehen einander Individuum und Gesellschaft in hochgradig irritierender Weise gegenüber. Das unerbittliche System, das Turandot um sich errichtet hat, trägt Züge von Zeremonie und Groteske, von totaler Organisation und gelenkter Massenhysterie: Eine Welt, die sich aufspannt zwischen der undurchdringlichen, todbringenden Anziehungskraft Turandots und scheinbar unausgesetzten Ritualen von Bewerbung, Warnung, Prüfung und Mord. Schatten und Priester bevölkern sie. Grell überzeichnete Minister sprechen ihre Warnungen in einem Ton, der auch musikalisch zwischen Provokation und Verhöhnung oszilliert – man glaubt ihnen aufs Wort, dass sie Hochzeit und Beerdigung zugleich vorbereiten. Als Basis all dessen – der Partitur wie des Staats – fungiert die Menge, die wechselweise nach Blut schreit und um Gnade für den Verurteilten bittet. Eine unberechenbare, unheimliche Größe.
Puccini kodierte seine Partitur mit Klangzeichen, die sein Publikum einem fernöstlichen Kulturraum zuordnen würde: einer pentatonisch grundierten Klangsprache und dem pointierten Einsatz von Schlagwerk. Diese fremdvertrauten Klänge sind dabei nicht ohne Chimäre. Eingebettet in Puccinis eigene Klangsprache ergeben sie einen neuen Sinnzusammenhang, ein Puccini-Peking, das in ferne Welten zu entführen scheint, tatsächlich aber außerhalb des Theaterraumes nicht existiert. Inte- ressanterweise ist Puccinis Peking seinem »Wilden Westen« verwandt – auch in La fanciulla del West bedient der Komponist sich der Pentatonik, um »Fremdheit« zu suggerieren.
Calàf widerfährt, so könnte die Fabel des Werks gelesen werden, Ähnliches: Fasziniert steht er vor Turandot, und triumphierend löst er ihre Rätsel. Doch auch nachdem er die letzte Antwort – »Turandot« – gefunden hat, ist er weit davon entfernt, das Wesen der Prinzessin dechiffriert zu haben. Die Faszination für das Fremde – in diesem Fall die Prinzessin – ist die Faszination für ein Phantasma. Kann es Calàf gelingen, zu der Frau vorzudringen, die dahintersteckt?
Puccinis Komposition endet mit dem Tod Liùs. Das große Finale, das glückliche Zusammenkommen von Turandot und Calàf, konnte er nicht mehr ausführen. Aber der Komponist hinterließ nicht nur eine unvollendete Oper, sondern auch eine Spur. Für das Finale, vor allem für das Schlussduett, hatte er eine ganz besondere Musik gesucht – »tipica, vaga, insolita« sollte die Oper an dieser Stelle klingen, so hatte es Puccini noch in der Partitur notiert. »Typisch, undeutlich, ungewöhnlich.« Er hatte damit selbst ein Rätsel hinterlassen, eine Aufgabe für die Nachwelt im Besonderen wie im Allgemeinen: Wie ist eine Geschichte, ein Ereignis, ein Gefühl in Musik zu setzen?
Auf Empfehlung des Uraufführungsdirigenten Arturo Toscanini komponierte Franco Alfano den Schluss nach. Davon unabhängig ließ Toscanini die Uraufführung an der Stelle enden, an der Puccini zu komponieren aufgehört hatte, im Andenken an den Komponisten. Aber der Maestro war auch mit Alfanos Arbeit nicht völlig einverstanden und bearbeitete und kürzte dessen Komposition für die Folgevorstellungen. In der Aufführungsgeschichte setzte sich diese Bearbeitung zunächst durch, der ursprüngliche Alfano-Schluss geriet in Vergessenheit und wurde erst 1978 wiederentdeckt. 2002 versuchte sich Luciano Berio an einer kompositorischen Neudeutung des Schlussduetts mit besonderem Fokus auf die Kussszene zwischen Calàf und Turandot. Alle drei Versionen haben ihre unterschiedlichen Blickwinkel und ihren je eigenen Reiz; die komplexe Psychologie Turandots spiegelt der erste von Franco Alfano komponierte Schluss am stärksten wider. Der Inszenierung von Claus Guth liegt diese ursprüngliche Version zugrunde.