UNGLEICHE MÜTTER
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Das zentrale Thema, das Dialogues des Carmélites verhandelt, ist die Todesangst. Ein zweites Thema, das die Karmelitinnen intensiv diskutieren, steht mit diesem ersten in Zusammenhang: Das des Martyriums. Die christliche Religion basiert auf dem Gedanken des stellvertretenden Todes Christi am Kreuz. In Dialogues des Carmélites wird dieser stellvertretende Tod aus heutiger Sicht in schockierend offener Weise besprochen: Die Karmelitinnen scheinen das Martyrium, den Tod für ihren Glauben, beinahe ebenso selbstverständlich zu den Aufgaben ihres Ordens zu zählen wie das Gebet.
Die theologische Diskussion, die in Francis Poulencs Oper einen nicht unbedeutenden Raum einnimmt, dreht sich um die Frage, wie die Rolle der Märtyrerin zu interpretieren ist. Im Stück wird diese Frage als Antagonismus zwischen zwei Figuren ausgetragen, die die Gemeinschaft der Karmelitinnen von Compiègne prägen: Zwischen Mère Marie de l’Incarnation, der Novizenmeisterin und Vizepriorin, und Madame Lidoine (Mère Marie de St. Augustin), die der verstorbenen Madame de Croissy (Mère Marie de Jesus) als Priorin nachfolgt. Die beiden Frauen haben historische Vorbilder; ihre Charakterzüge und ihre Interessen sind aber vollständig der Dichtung von Gertrud von le Fort und Georges Bernanos entsprungen. Sie entwerfen Mère Marie und Madame Lidoine bewusst als Gegensatzpaar, als zwei Frauen mit unterschiedlichen Hintergründen, die zum Teil auch erklären, warum sie ihre Sendung und ihre Aufgaben so gegensätzlich begreifen. Mère Marie de l’Incarnation ist – im Stück wie als historische Person – die uneheliche Tochter von Louis François de Bourbon, prince de Conti. In Gertrud von Le Forts Novelle begreift sie es als ihre Sendung, »die Sünden des Hofes zu sühnen«, und tritt deshalb in den Karmel ein. Francis Poulenc lässt Interpretationsspielraum, in seinen Dialogues wird die Herkunft der Schwestern nur teilweise erklärt. Was wir in der Handlung erfahren, ist, dass Mère Marie als die feurigste Advokatin des Martyriums auftritt. Madame Lidoine dagegen, die neue Priorin, mahnt, dass eine derartige Entscheidung allein Gott fällen könnte.
Wie ist eine aktive Entscheidung für das Martyrium in einer so strenggläubigen Gemeinschaft wie der der Karmelitinnen denkbar, ohne zugleich das christliche Verbot des Selbstmordes zu verletzen? Mère Marie organisiert in Abwesenheit der neuen Priorin eine Abstimmung darüber, ob die Schwestern sich durch einen Schwur zum Martyrium verpflichten sollen. Das könnte bedeuten, dass sie an ihrem Leben als religiöse Gemeinschaft festhalten, obwohl dieses mittlerweile verboten ist und tödlich sein könnte; vielleicht aber auch, dass sie eine Möglichkeit zur Flucht vor dem Schafott nicht wahrnehmen. Eine streng religiöse Ordensschwester – wie Madame Lidoine – muss davon ausgehen, dass alles von Gott kommt, also auch die Fluchtmöglichkeit. Der Schwur, den die Schwestern unter Anleitung Mère Maries leisten, ist demnach eine Eigenmächtigkeit, die Madame Lidoine ablehnt. Und die zugleich die Schwestern einem Druck aussetzt, den die neue, bürgerliche Priorin ihnen wohl gerne erspart hätte.
Eve-Maud Hubeaux, die die Mère Marie in der Neuproduktion an der Staatsoper verkörpert, findet den Charakter der Vizepriorin deutlich vielschichtiger, als er zunächst scheinen mag. »Man könnte es sich einfach machen und sie als bösartig oder machtversessen zeichnen. Aber es ist interessanter, sie als den komplexen Charakter zu sehen, der sie tatsächlich ist, mit all den Problemen, die ihre Herkunft als illegitimes Mitglied der Königsfamilie mit sich bringt.«
Für Eve-Maud Hubeaux stecken vor allem aktuelle Bezüge in Poulencs Oper wie auch in der Figur der Mère Marie. Das beginnt mit ihrem enormen Engagement im Karmel, für das Hubeaux gesellschaftliche Ursachen findet: »Die Geschichte der Obsession Mère Maries mit dem Martyrium ist auch die Geschichte einer intelligenten Frau mit Potenzial, die in der Männerwelt ihrer Zeit keinen legitimen Ort einnehmen könnte. Als Frau seinen Ort zu finden ist auch in unserer heutigen liberalen Gesellschaft eine Herausforderung; wenn wir aber auf den nächsten Kontinent schauen, wo Frauen noch immer viel weniger Freiheit haben, sehen wir, dass das Thema global gesehen absolut aktuell und universell ist.«
Generell sind es für die Sängerin die aktuellen und bis heute aktuell gebliebenen Fragen in dem Stück, die den Erfolg der Oper beim Publikum erklären. »Die Fragen, die in dem Stück verhandelt werden, stehen in einem historischen Kontext und vor einem religiösen Hintergrund, aber der Inhalt ist universell, es geht um philosophische Fragen, die sich nicht auf eine bestimmte religiöse Konfession beschränken.« Nichtsdestoweniger glaubt die Sängerin an die tiefe Religiosität ihrer Figur, weist aber darauf hin, dass es gerade die besondere Art dieser Religiosität ist, die auch zum Konflikt zwischen ihr und der neuen Priorin führt: »Es ist eine Religiosität, die in gewisser Weise heidnische Züge oder Züge einer archaischeren Form des Christentums trägt. Sie gehört einem Orden an, der sich vollkommen dem Gebet verschrieben hat, aber sucht selbst ständig nach Möglichkeiten, etwas aktiv zu entscheiden oder zu bewegen. Das gilt auch für das Martyrium.« Auch hier stellt sich für die Sängerin der Bezug zur Gegenwart her: »Die Entscheidung für das Martyrium mag für uns persönlich schwer vorstellbar sein – gleichzeitig existiert die Entscheidung des Sterbens für den Glauben ganz aktuell. Es erscheint vielleicht etwas merkwürdig, aber ich habe mir zur Vorbereitung auf die Rolle auch Bekennerschreiben islamistischer Terroristen angesehen, die sich selbst als Märtyrer bezeichnen. Der Zusammenhang ist ein anderer, aber mir ging es darum, mich mit der Psychologie von Menschen zu beschäftigen, die für ihren Glauben sterben wollen. Das ist ein sehr aktueller Bezug, der mich interessiert hat.« Für die Darstellung auf der Bühne ergeben sich im Lauf der Proben noch verschiedene Möglichkeiten. »Fest steht, dass es eine sehr harte Person sein wird. Die Weise, in der sie die Schwestern zum Schwur über das Martyrium drängt, macht sie zu einem unsympathischen Charakter. Aber es wird auch meine Aufgabe sein, sie interessant und mehrdimensional zu gestalten. Dafür gibt es die Partitur – die Zweifel, das Scheitern, all das steht im Stück in den Brüchen in den Harmonien, den dynamischen Wechseln. Man muss einfach Vertrauen in das Material haben und sich davon leiten lassen.«
Auch über Madame Lidoine finden sich Informationen in der Novelle von Gertrud von Le Fort: Sie ist dort die Tochter eines Viehhändlers, ihre Wahl ist auch politisch begründet, das wird explizit gemacht. In den Dialogues des Carmélites wird die Bodenständigkeit und Lebensnähe dieser Nonne durch ihre Antrittsrede charakterisiert, in der sie einfach spricht und anschauliche Metaphern verwendet. In dieser Figur verbinden sich Frömmigkeit und Verantwortungsgefühl: Zum einen ist Gottes Wille unbedingt zu akzeptieren (auch hier stellt sich die interessante Frage, woran man ihn in der extremen Situation einer Karmelitin des Jahres 1794 erkennen kann); zum anderen übernimmt sie Verantwortung für die Gemeinschaft und steht ihren Schwestern bzw. Töchtern bis zum Ende bei. Obwohl sie den Schwur selbst nicht geleistet hat, geht sie mit den anderen Karmelitinnen ins Gefängnis und betritt als erste das Schafott. Interessant scheint die Überlegung, ob sie anders gehandelt hätte, wäre der Schwur (den sie, wie sie sagt, »auf sich« nimmt) nicht geleistet worden. Womöglich hätte sie die Karmelitinnen anders beraten als Mère Marie?
Für Maria Motolygina, die an der Wiener Staatsoper die Madame Lidoine singt, ist es die erste Erfahrung mit der Musik von Francis Poulenc. »Für mich geht es in dieser Oper um die Stärke der Seele«, sagt sie. »Jeder Mensch hat Ängste, aber es ist etwas Besonderes, diese Angst auch zu konfrontieren, wie Blanche das in der Oper tut.« Motolygina sieht auch ihre Figur, die eigentlich stark erscheinende Madame Lidoine, mit Angst konfrontiert: »Die Todesangst betrifft natürlich auch sie. Aber es ist auch schwer für sie, zum ersten Mal eine so große Verantwortung zu tragen, wie sie sie für die Karmelitinnen hat. In meiner Vorstellung hat sie Angst davor, falsche Entscheidungen zu treffen, und dieser Druck lastet auch sehr schwer auf ihr. Als eine Person, die aus einfacheren Verhältnissen kommt als viele der anderen Schwestern und natürlich auch als Mère Marie, bringt sie eine gewisse Hypothek in ihre neue, exponierte Stellung mit. Ich denke, dass man trotz ihres verantwortungsbewussten Auftretens auch merken sollte, dass sie in einer Situation ist, die sie sehr herausfordert und teilweise auch erschöpft.«
Für die Darstellung auf der Bühne sieht Maria Motolygina die Arbeit mit dem Körper als zentral an. »Gerade der Konflikt zwischen Madame Lidoine und Mère Marie muss an vielen Stellen körperlich zum Ausdruck kommen und so für das Publikum spürbar werden. Aber auch, dass sie selbst Angst hat, muss sichtbar werden.« Ein lebendiges, unverkrampftes Spiel, so Motolygina, ist dabei auch eine Unterstützung für die Stimme: »Der Körper hilft beim Singen. Manchmal ist auch körperliche Anspannung notwendig, aber generell versuche ich, mit der Musik, mit dem Gesang zu spielen, und das bedeutet ein Spiel, bei dem der Körper locker ist.« Was die Stimme betrifft, so interessiert Motolygina auch die Parallele, die Francis Poulenc selbst zwischen seiner Madame Lidoine und Verdis Desdemona gezogen hat. »Beide wissen, dass sie sterben werden, und beide zeigen Emotionalität, aber auch Stärke angesichts dieses Schicksals.« Für ihre Stimme sei die Partie perfekt, erklärt Motolygina. Schwierig sind vor allem die Stellen, an denen Francois Poulenc dem Publikum die Botschaft der Figur vermitteln wollte: »In ihrer ersten Arie [der Antrittsrede, Anm.] singt sie teilweise über längere Strecken nur auf einer Note. Hier ist es besonders wichtig, verständlich und präzise zu sein, weil das die Stellen sind, an denen sich ihre Gedanken vermitteln.«
Schon am Beginn der Proben ist deutlich zu spüren, wie tief beide Sängerinnen bereits in ihre Rollen und in den Kosmos von Francis Poulencs Dialogues des Carmélites eingetaucht sind. Die Begegnung der beiden ungleichen ›Mütter‹ auf der Bühne der Wiener Staatsoper verspricht Spannung.
DIALOGUES DES CARMÉLITES
21. / 24. / 27. / 30. Mai / 2. Juni 2023
Musikalische Leitung Bertrand de Billy
Inszenierung Magdalena Fuchsberger
Bühne Monika Biegler
Kostüme Valentin Köhler
Video Aron Kitzig
Licht Rudolf Fischer
Mit Nicole Car / Bernard Richter / Michaela Schuster / Maria Motolygina / Eve-Maud Hubeaux / Michael Kraus / Maria Nazarova / Monika Bohinec / Alma Neuhaus /Thomas Ebenstein / Andrea Giovannini / Jusung Gabriel Park / Jack Lee / Clemens Unterreiner
Text und Interviews Nikolaus Stenitzer