Realisierte und imaginierte Liebe

Mozarts Entführung aus dem Serail gehörte auch an der Wiener Staatsoper zu den populärsten und meistgespielten Werken – bis die Aufführungsgeschichte an diesem Haus vor 20 Jahren jäh abriss (eine mitproduzierte einmalige Vorstellungsserie im Mozartjahr 2006 fand ausschließlich am Wiener Burgtheater statt). Nach einer so langen Pause war also für die längst fällige Rückkehr des Werks nur das Beste gut genug – und so darf sich das Publikum auf die preisgekrönte Inszenierung des Regiegiganten Hans Neuenfels freuen, die ab der Premiere am 12. Oktober das Repertoire veredeln und beleben wird. Teil des aufsehenerregenden Regiekonzeptes ist es, dass alle Sänger durch Schauspieler verdoppelt werden, wodurch eine aus der Musik gespeiste seelische und psychologische Innenschau der Charaktere möglich wird, wie sie hier in der Entführung noch nie zu erleben war. Zugleich unterstreicht dieser Zugang die solitäre Stellung der von Mozart als reine Sprechrolle ausgearbeiteten Figur des Bassa Selim. Somit hat sich die komplexe Dreiecksbeziehung der zentralen Handelnden Selim-Konstanze-Belmonte in dieser szenischen Interpretation gewissermaßen zu einem noch komplexeren Fünfeck erweitert. Eine Konstellation, die ein gemeinsames Interview besonders spannend erscheinen lässt: Und so entstand das nachfolgende Gespräch mit Andreas Láng am Ende der zweiten Probenwoche – Corona-bedingt im Freien, auf der Dachterrasse der Staatsoper und mit einem gehörigen Sicherheitsabstand.  

Hans Neuenfels hat beim Konzeptionsgespräch davon gesprochen, dass die jeweiligen Sänger und Schauspieler einer Rolle – also zum Beispiel die beiden Konstanzen – im Laufe der Probenzeit immer intensiver zu echten Alter Egos mutieren. Können Sie jetzt schon aufzeigen, wie es sich anfühlt, als Doppelpack auf die Bühne zu treten?

CHRISTIAN NATTER (Belmonte-Schauspieler): Zunächst geht es darum, herauszubekommen, an welchen Stellen eine echte Dopplung stattfindet beziehungsweise an welchen Stellen ich andere Emotionen zeige als mein Alter Ego, der Belmonte-Sänger. Glücklicherweise ist uns eine gut bemessene Probenzeit geschenkt, sodass wir tatsächlich vieles ausprobieren können, hineinwachsen können. Letztlich handelt es sich ja nicht bloß um eine Übernahme der Produktion aus Stuttgart, sondern um eine Weiterentwicklung mit zum großen Teil anderen Interpreten. Im Gegensatz zu dir Emanuela, bin ich ja zum Beispiel neu im Team.

EMANUELA VON FRANKENBERG (Konstanze-Schauspielerin): Ich muss zugeben, ein wenig Angst hatte ich zunächst schon: Wir waren in Stuttgart über mehrere Jahre eine aufeinander eingeschworene Gruppe und ich fragte mich, ob der Geist dieser Produktion sich einfach so transferieren ließe. Umso glücklicher bin ich, erkennen zu können, wie sehr ich das Frühere hinter mir lassen darf, hier absolut Neues entsteht – nicht zuletzt in Wechselwirkung mit meiner wunderbaren Doppelhälfte (blickt auf Lisette Oropesa). Wir sind also tatsächlich echte Alter Egos, die mit und durch das Gegenüber wirken und nicht bloß eine Kopie des bereits Bestehenden abziehen. Das ist lebendiges Theater: flexibel in der Ausgestaltung, ohne dabei den Kern des Gedankens zu verraten.

LISETTE OROPESA (Konstanze-Sängerin): Gerade wenn man die eigene Partie schon oft geben durfte, ist es eine Wohltat, die Vielfältigkeit der Gefühle gemeinschaftlich und im Dialog mit sich selbst offen zu legen. Konstanze hat zum Beispiel ein sehr sonderbares Verhältnis zu Selim: Liebt sie ihn ebenfalls oder doch nicht? Durch die Dopplung sind allein in dieser Frage ganz andere Nuancen möglich. Es ist, als ob ich aus der Zweidimen- sionalität in die Dreidimensionalität gewech- selt wäre ...

DANIEL BEHLE (Belmonte-Sänger): ... und so passiert etwa in der schweren Arie »Ach, ich liebte« zwischen Konstanze und Selim so vieles, das ansonsten gar nicht möglich gewesen wäre. Was das Korsett der Konzentration des Sängers auf seine Noten verhindert, kann die Schauspielerin währenddessen ausspielen. Dadurch ist der Spielastik jede Form der Statuarik genommen und der für Hans Neuenfels so wichtige Singspiel-Charakter des Werkes betont.

CHRISTIAN NICKEL (Bassa Selim): Als einziger Nicht-Verdoppelter ist es für mich wiederum sehr interessant, in diesem Spielsystem einen Weg zu finden, mit diesen zweifachen Gegenübern umzugehen. Insbesondere mit Konstanze: Die eine kämpft mit mir, während die andere mich zu verführen trachtet. Ich sehe mich somit zwei unterschiedlichen Ebenen einer Person zur gleichen Zeit ausgesetzt. Wichtig ist nur, dass ich nicht der Gefahr erliege, schauspielerisch mit der emotionalen Höhe der Musik in Konkurrenz treten zu wollen. Es ist nun einmal ein Singspiel, allerdings eines, in dem die Schauspielszenen nicht nur Staffage sind.

Aber gibt es eine konkrete Zuordnung innerhalb der Verdoppelung: Der emotionale Part liegt beim Sänger, der rationale beim Schauspieler?

CHRISTIAN NICKEL: Keineswegs. DieZuschauer sind immer wieder herausgefordert, sich mit beiden Hälften auseinander zu setzen. So gibt es für beide Konstanzen Momente, in denen sie Selim nahe sind respektive ihn abweisen – aber diese sind nicht überlappend.

DANIEL BEHLE: Als Belmonte sind wir beide recht planlos. Meine Ahnungslosigkeit paart sich mit deiner Ahnungslosigkeit – aber zusammen bekommen wir es dann hin. Trotzdem glaube ich, dass du, Christian, der Stabilere von uns beiden bist.

CHRISTIAN NATTER: Naja, ich führe dich ständig in herausfordernde Situationen hinein. Trotzdem scheint mir, dass du der Mutigere bist. Andererseits: Bei unserem ersten Zusammentreffen mit Osmin, wo ich schon viel früher auf der Szene bin als du, muss ich wiederum dich ständig ermutigen. Es stimmt, es gibt keine Schubladisierung.

DANIEL BEHLE: Im Grunde führen die beiden Belmontes sehr oft ein Selbstgespräch.

CHRISTIAN NATTER: Sie müssen die a parte-Teile nicht an das Publikum adressieren, sondern an das Alter Ego, was einen eigenen, ganz neuen Reiz ergibt.

LISETTE OROPESA: Wir Konstanzen hingegen helfen einander, schützen einander, haben unsere Konflikte, allerdings ohne zu sprechen. Unsere Dialoge passieren vielmehr durch Blicke und durch die Musik.

EMANUELA VON FRANKENBERG: Nur einmal sagst du zu mir: »Sag doch was«, worauf mir dann »die Worte fehlen«. Und da finde ich es von Hans Neuenfels ganz genial, dass er dir eine wichtige Textpassage zugedacht hat. Vielleicht bist du doch die feinere und toughere von uns beiden. Schon bei der »Marternarie« ist das abzusehen: Ich werde ohnmächtig und du singst. Die Schauspielerin-Konstanze scheint grundsätz- lich in ihrer Verzweiflung und Einsamkeit durch die Sängerin-Konstanze ermutigt, erlöst, befreit. Diese Verbindung hat etwas Heilendes. Allerdings nicht durchgehend – und das ist das Spannende! Manchmal sind wir eben allein, trotz allem.

Und was passiert mit Konstanze, nachdem sie Selim am Ende wieder verlassen hat? Bleibt eine Sehnsucht übrig? Ist die Liebe zu Belmonte noch intakt?

LISETTE OROPESA: Das ist vielleicht die größte Frage, die diese Oper bewusst offen lässt. Gerade durch sein humanistisches Auftreten, seine Bereitschaft, auf die Liebe zu verzichten und seine Gefangenen gehen zu lassen, erkennt Konstanze das wahre Wesen des Bassa. Das heißt nicht, dass sie Belmonte nicht mehr liebt, aber sie hat mit dieser wunderbaren Person Selim eine prägende Zeit verbracht. Und das bleibt ein unbewältigter Konflikt.

CHRISTIAN NICKEL: Diese Krise ist aber für Konstanze und Belmonte notwendig, um ihre wahre Liebesfähigkeit überprüfen zu können. Für beide ist dieser Weg durch das Serail ein Reifeprozess. Es steht nichts weniger zur Diskussion, als ob der Weg der Liebe, den man sich geschworene hat, verlassen wird, oder nicht.

EMANUELA VON FRANKENBERG: Letztlich wird die Beziehung zwischen den beiden aufgewertet, weil sich Konstanze trotz ihrer Metamorphose, die sie im Serail durchlebt hat, zu Belmonte bekennt. Er ist sanfter ... aber Selim hat ihr Herz »angegriffen«. Somit bleibt, wie schon Lisette sagt, eine Frage, ein Geheimnis.

CHRISTIAN NICKEL: Auf jeden Fall gibt es keine hundert- prozentige Eindeutigkeit: Man muss akzeptieren, dass ein Paar glücklich miteinander ist, auch wenn weiterhin eine Sehnsucht bestehen bleibt. Es gibt eine Sehnsucht und es gibt ein Versprechen, es gibt eine realisierte Liebe und eine imaginierte Liebe.

DANIEL BEHLE: Mich macht diese Gefühlsunsicherheit zunächst jedenfalls geradezu verrückt. Eigentlich zeigen Belmontes Arien und auch das Quartett einen stets völlig verunsicherten Zweifler.

Die berühmte Frage, ob der Interpret einer Rolle, in dem Moment in dem er die Bühne betritt, zum dar- gestellten Charakter wird, oder diesen nur spielt, ist an sich schon schwer zu beantworten. Aber im Falle der Verdopplung noch vielmehr, oder?

DANIEL BEHLE: Also ich muss tatsächlich Belmonte sein. Schließlich soll mir etwas an Konstanze liegen, in jeder Arie, sonst ist die ganze Musik hinfällig.

CHRISTIAN NATTER: Uns! Wir sind ja beide Belmonte. (lacht)

CHRISTIAN NICKEL: Sagen wir es so: Zeig mir deine Maske und ich weiß, wer du bist!