»CARMEN« - IM GRENZGEBIET

Es sind die Randbereiche der spanischen Gesellschaft, in die uns die Vorlage zur Oper Carmen führt, Prosper Mérimées gleichnamige Novelle: Soldaten mit krimineller Vorgeschichte, Schmuggler, Prostituierte, Fabrikarbeiterinnen und spanische Roma sind die handelnden Figuren. Erzählt wird in einer doppelten Rückblende: Der Erzähler begegnet auf seiner Reise durch Andalusien einem gesuchten Kriminellen und mehrfachen Mörder: Don José. Dieser erzählt seine Lebensgeschichte: Bei einem Streit in seinem baskischen Heimatdorf hat er seinen Gegner mit einer Eisenstange getötet, musste seine Heimat verlassen und landete beim Militär in Andalusien. Nachdem er die Bekanntschaft mit der Roma Carmen gemacht hat, gerät er ins kriminelle Milieu: Er ersticht einen Leutnant, der ihm als Rivale um Carmens Gunst erscheint, und wird Mitglied ihrer Schmuggler- und Räuberbande. Die Bande ist skrupellos, nicht nur im Umgang mit den überfallenen Opfern, sondern auch untereinander: Als José einen auf der Flucht angeschossenen Kumpanen tragen will, schießt ein anderer dem Verletzten ins Gesicht, damit er der Gruppe nicht zur Last fällt und nicht identifiziert werden kann. José fordert Garcia, den offiziellen Partner Carmens, zum Duell und ersticht ihn, worauf der Anführer ihm erklärt: »Hättest du Carmen einfach von ihm verlangt, er hätte sie dir um einen Piaster verschachert!«

Auch Carmen verhält sich rücksichtslos: Als Kopf der Bande fädelt sie Schmuggelgeschäfte und Raubüberfälle ein. Dabei wirkt sie völlig unabhängig, bewegt sich autonom zwischen Sevilla, Gibraltar und Cordoba und trifft die Männer ihrer Bande nur gelegentlich, um neue Pläne zu besprechen und José zu sehen, der sich als zunehmend eifersüchtig und aggressiv erweist. Sie hingegen schläft mit wohlhabenden Männern, lässt sich dafür bezahlen, nutzt aber vor allem die emotionale Abhängigkeit dieser Männer aus, um sie in die Falle zu locken. Um Schmuggelaktionen zu ermöglichen nimmt sie auch Wachsoldaten mit erotischen Mittel für sich ein. José ermordet Carmen, weil sie sich weigert, sich nach dem Erkalten ihrer Gefühle weiter an ihn zu binden. Es ist eine geplante, vorbereitete Hinrichtung in einer einsamen Schlucht, und der Bandit schließt seine Erzählung mit den Worten: »Die Kalé [Roma] sind schuld, sie haben sie so erzogen.«

Die Carmen-Novelle ist ein geschickt komponierter und mit Expertenwissen angereicherter Kolportage-Roman, den der Autor auf sein französisches Lesepublikum zugeschnitten hat. Für die darauf beruhende Oper milderten die Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy die Kolportage-Elemente etwas ab: Bis zum Mord an Carmen, der in der Oper eher ein Totschlag im Affekt ist, begeht José keine schweren Verbrechen. Raubüberfälle und Trickbetrug sind kein Thema, Prostitution wird lediglich angedeutet – die sichtbaren kriminellen Aktivitäten der Schmugglerbande beschränken sich auf nächtlichen Warentransport. Carmen ist nicht mehr der unabhängige, autonom agierende Kopf der Bande, sondern Teil der Gemeinschaft; sie hat zwei Freundinnen an ihrer Seite, ihr Gesang findet stets Widerhall in der Gruppe, die in ihren Refrain einstimmt.

Trotz dieser Zugeständnisse blieb die gewalttätige Stimmung der Novelle auch in der Oper erhalten – die kontroverse Reaktion auf die Uraufführung beweist die Radikalität der Stoffwahl. Höchst ungewöhnlich war 1875 die Menge der auf der Bühne gezogenen und eingesetzten Messer, Degen, Gewehre und Pistolen. José ist zwar kein Serienmörder wie in der Novelle, zettelt aber mehrere bewaffnete Kämpfe an und muss von seinen Kontrahenten getrennt werden, bevor Schlimmeres geschieht. Und auch wenn das Opernlibretto ihm eine (abwesende) Mutter und eine potenzielle ideale Ehefrau an die Seite stellt, bleibt er ein besitzergreifender und aggressiver Zeitgenosse, der selbst bei den Schmugglern unangenehm auffällt.

Wie die Novelle spielt die Oper unter den Entwurzelten und Heimatlosen: José musste ebenso wie die meisten seiner Soldaten-Kameraden seine Heimat verlassen, die Roma sind ohnehin der Inbegriff der Nicht-Sesshaften, Escamillo reist als Stierkämpfer von Corrida zu Corrida, und auch Micaëla befindet sich allein und schutzlos im fremden Land. Immer noch sind die Minderprivilegierten und Ausgestoßenen die handelnden Figuren: Arbeiterinnen einer Tabakfabrik, Soldaten, Roma und Kriminelle – lediglich der für die Oper hinzuerfundene Escamillo hat den sozialen Aufstieg geschafft.

Das Andalusien des 19. Jahrhunderts war ebenso legendär wie gefährlich: Die Bevölkerung war arm, die Kriminalitätsrate hoch und die Landschaft mit ihren Schluchten und Felsen kaum zu kontrollieren. Die Nähe zu Gibraltar sorgte nicht nur für lebhaften Handel, sondern lockte auch Schmuggler und Bandoleros (Straßenräuber) an. Deshalb gab es einen hohen Bedarf von Soldaten, die aus Kriminellen und Verstoßenen anderer Landesteile rekrutiert wurden. Zur Vorbereitung für ihre Carmen-Inszenierung (die beim Festival Peralada 1999 erstmals gezeigt wurde) reisten Calixto Bieito und sein Team durch den spanischen Süden. Den gesuchten Grenzbereich Europas fanden sie nicht mehr in Andalusien, sondern erst auf der afrikanischen Seite, in der spanischen Exklave Ceuta, die von Marokko umgeben ist. Hier trafen die Legión Española (die ehemalige spanische Fremdenlegion), Schmuggler, Migranten und Arme in einer an Carmen erinnernden Weise aufeinander. Heute ist uns die exponierte Lage der Stadt wohl noch präsenter als 1999: Immer wieder versuchen Menschen auf der Flucht, den bereits mehrfach erhöhten Grenzzaun zu überwinden, um in die Europäische Union zu gelangen. Gleichzeitig wurde der Schmuggel von Alltagsgütern lange Zeit stillschweigend geduldet, erst seit Kurzem will Marokko härter durchgreifen.

Inspiriert von Bildern aus und um Ceuta entstand die Carmen-Welt dieser Inszenierung. Dabei fanden manche Elemente der Novelle den Weg zurück in die Oper. Es ist wie Mérimeés Andalusien eine gefährliche und von Gewalt geprägte Welt, und wir sehen, wie ein kleines Mädchen, vielleicht die Tochter von Mercédès, in diese Welt hineinwächst.

Von der realistischen Anmutung der Kostüme und Szenen sollte man sich dabei nicht täuschen lassen: Diese Carmen spielt in einem poetischen Niemandsland. Kunstvoll werden nationale Symbole zitiert und durch Montage in Frage gestellt. Wir sind bei aller dokumentarischen Inspiration in einem künstlerisch verdichteten Raum, dessen Horizont immer von einer Barriere versperrt scheint. Grenzen, sagt Calixto Bieito, bedeuten immer auch Gefahr für diejenigen, die sie zu überschreiten versuchen. Und fast alle Figuren der Oper versuchen, die Grenzen zu überwinden, die Armut, Gewalt und Frustrationen ihnen setzen: Sie leben, lieben und feiern, und insbesondere in den szenisch gestalteten Zwischenspielen spürt man ihre Schönheit und ihre Sehnsüchte, die sie sich nicht haben austreiben lassen. Carmen sticht durch ihr Selbstbewusstsein, ihre Leidenschaft und ihre Klarheit heraus, bleibt aber in Bieitos Inszenierung ein Mensch aus Fleisch und Blut. Sie lacht über unser Stereotyp von einer »Zigeunerin« im Flamencokleid sicher nicht weniger als über Josés Behauptung, sie sei der Teufel.