© Monika Rittershaus

EINE MUSIK FÜR DAS KOMMENDE ZEITALTER?

»Am anderen Morgen stiegen sie aus der Schlucht he- raus und machten sich wieder auf den Weg. Aus einem Stück Rohr an der Straße hatte er dem Jungen eine Flöte geschnitzt, die er nun aus seiner Jackentasche zog und ihm gab. Der Junge nahm sie wortlos entgegen. Nach einer Weile fiel er zurück, und wieder etwas später konnte der Mann ihn spielen hören. Eine formlose Musik für das kommende Zeitalter. Oder vielleicht die letzte Musik auf der Erde, beschworen aus der Asche ihres Untergangs. Der Mann drehte sich um und betrachtete ihn. Er war völlig in sein Spiel vertieft. Er kam ihm vor wie ein trauriger, einsamer Wechselbalg, der die Ankunft eines Wanderschauspiels in Grafschaft und Dorf ankündigt und noch nicht weiß, dass hinter ihm alle Schauspieler von Wölfen verschleppt worden sind.«

An dieser Stelle der grandiosen, 2006 von dem amerikanischen Romanautor Corman McCarthy entworfenen Dystopie The Road (Die Straße) entsteht ganz unvermutet die Assoziation eines Spielmannes. Ein Spielmann ist auch eine wichtige Gestalt in Mahlers symphonischer Chorkantate mit Gesangssoli Das
klagende Lied
– und zugleich eine Identifikationsfigur ihres Komponisten. Den Korrespondenzen beider Werke, die die Fantasie des Regisseurs Calixto Bieito miteinander verknüpft, sei im Folgenden nachgehorcht. 

McCarthy schildert einen Mann und einen Jungen auf einem einsamen und gleichwohl ständig bedrohten Marsch, »jeder die ganze Welt des anderen«. Der Mann ist der Vater des Jungen. Die Mutter hatte das Kind während einer globalen, aber uns nicht näher erklärten Katastrophe zur Welt gebracht und sich später aufgrund von Hoffnungslosigkeit und im Bewusstsein, früher oder später »den Bösen« zum Opfer zu fallen, selbst getötet. Die Bösen: Das sind Überlebende, die sich zu versklavenden, vergewaltigenden, mordenden und menschenfressenden paramilitärischen Rotten zusammengeschlossen haben. Vater und Sohn sind – neben wenigen Habseligkeiten, die sie in einem umfunktionierten Einkaufswagen mit sich führen – ein Revolver und zwei Patronen geblieben. Diese sind ihr kostbarster Besitz. Der Vater bewahrt sie auf, um den Sohn und sich selbst umbringen zu können, bevor sie den Bösen in die Hände fallen. Die beiden Flüchtlinge werden, den Trassen amerikanischer Highways folgend, in einem Gewaltmarsch ein Gebirge übersteigen, um im Süden das ersehnte Meeresufer zu erreichen. Ihr Marsch führt durch eine apokalyptisch ausgebrannte, von Aschen-Schnee bedeckte Eislandschaft. Was von der Natur, von Fauna und Vegetation übriggeblieben ist, sind verkohlte Schemen, die bei der geringsten Erschütterung zu Staub zerfallen. Alle gesellschaftlichen Organisations- und Kulturformen sind restlos zerstört. Das nackte Faustrecht ist an ihre Stelle getreten. Vater und Sohn sind auf das Aufspüren versteckter und nach dem Tod der Besitzer vergessener Vorräte und Lebensmittel angewiesen. Unterwegs wachsen angesichts der eigenen, vom Vater im Dienste des Existenzerhalts erzwungenen Entmenschlichung die Zweifel des Sohnes, ob sie sich wirklich noch »zu den Guten« zählen dürfen, zu jenen, »die das Feuer bewahren«, ständig an. Der nach Erreichen ihres Zieles durch einen Pfeil aus dem Hinterhalt angeschossene Vater vermag zwar den Angreifer mit einer in einem Schiffswrack aufgefundenen Leuchtpistole zu töten, erliegt aber bald darauf seiner Verletzung. Auch wenn die endlich erreichte südliche Küste die Hoffnung auf eine intakt gebliebene, bessere Welt bitter enttäuscht, so leuchtet doch am Ende der Dystopie ein Lichtschimmer: Der Junge wird von einem Paar aufgenommen, das auch zwei Kinder seines Alters beschützt. Es sind die ersten Altersgenossen, die der Bub kennenlernt. Nur einmal war ihm im Verlauf des Romangeschehens angeblich ein kleiner Junge begegnet, von dem der Vater freilich meinte, es müsse sich um eine Halluzination seines Kindes gehandelt haben.

Für Regisseur Calixto Bieito wurde The Road – die Verfilmung aus dem Jahr 2009 kam ein Jahr später auch in die deutschsprachigen Kinos – zu einer wich- tigen Inspirationsquelle seines Schaffens. Bereits sein Stuttgarter Parsifal aus dem Jahr 2010 knüpfte an Motive aus McCarthys post-zivilisatorischem Roadmovie an, bei dem an die Stelle von Motorrad oder Auto ein als solcher nutzlos gewordener Einkaufswagen getreten ist. Auch im Vorfeld seines Wiener Mahlerprojektes, das Mahlers apokryphes Opus 1 Das klagende Lied (1879/80) mit den späten Kindertotenliedern (1901/04) zu einem szenischen Abend verbindet, kommt der Regisseur im Gespräch immer wieder auf dieses Buch zurück. Vielleicht, weil das ca. einstündige Werk, das dem ersten Teil des Abends zugrunde liegt, mit dem Zusammenbruch einer Welt endet? Im zweiten Satz des Klagenden Lieds schnitzt sich ein Spielmann eine Knochenflöte, doch als er sie an die Lippen führt, singt die Flöte mit der Stimme eines Knaben:

Ach Spielmann, lieber Spielmann mein,
das muss ich dir nun klagen.
Um ein schönfarbig Blümelein
hat mich mein Bruder erschlagen.
Im Walde bleicht mein junger Leib,
mein Bruder freit ein wonnig Weib.

Die Flöte ist also aus dem Gebein eines Mordopfers geschnitzt. Das »wonnig Weib« ist die »stolze Königin«. Im ersten Satz der Kantate ist sie als ebenso »lieblich« wie gefährlich geschildert worden. In ihrem Männerhass will sie sich nur demjenigen hingeben, der im Wald eine »rothe Blume« findet und ihr überbringt. Zwei Brüder sind ausgezogen, doch der ältere hat den jüngeren glücklichen Finder um des versprochenen Lohnes willen mit dem Schwert ermordet. Im dritten und letzten Satz, dem Hochzeitsstück, verschafft sich der Spielmann Einlass zu den Hochzeitsfeierlichkeiten im Schloss und lässt vor der Festgesellschaft die Knochenflöte ihr Lied anstimmen. Der entlarvte Mörder greift frevelnd nach dem Instrument und setzt es sich selbst an den Mund, doch dieses singt nun die Worte:

Ach Bruder, lieber Bruder mein!
Du hast mich ja erschlagen!
Nun bläst du auf meinem Totenbein!
Dess’ muss ich ewig klagen.

Die Königin sinkt zu Boden, die Festmusik verstummt, die Gäste fliehen, die Mauern des Schlosses stürzen ein, die Lichter im Königssaal verlöschen.

»Die Uhren blieben um 1 Uhr 17 stehen. Eine lange Lichtklinge, gefolgt von einer Reihe leichter Erschütterungen. Er stand auf und trat ans Fenster. Was ist das?, fragte sie. Er gab keine Antwort. Er ging ins Bad und betätigte den Lichtschalter, aber der Strom war bereits ausgefallen. Im Fensterglas ein stumpfer, rosiger Schimmer. Er ließ sich auf ein Knie nieder, drückte den Hebel, der den Abfluss der Badewanne verschloss, und drehte beide Hähne bis zum Anschlag auf. Sie stand im Nachthemd in der Tür, klammerte sich am Türpfosten fest, hielt sich mit einer Hand den Bauch. Was ist das?, fragte sie. Was ist los?

Ich weiß nicht.
Warum nimmst du ein Bad?
Ich nehme kein Bad.«

In McCarthys Roman wird das »vor der Katastrophe« nur in Erinnerungen des Vaters vergegenwärtigt, dem Jungen ist es völlig unbekannt. Doch die Erinnerung an eine schönere Welt muss abgewehrt werden, sie bedeutet eine existentielle Bedrohung, denn es ist der Tod, der sich in ihre verführerischen Träume kleidet:

»Er schlief wenig, und er schlief schlecht. Er träumte, sie gingen durch einen blühenden Wald, wo Vögel vor ihnen herflogen und der Himmel von schmerzhaftem Blau war, aber er lernte, sich aus solchen Sirenenwelten herauszureißen. Und lag dort im Dunkeln, während in seinem Mund der unheimliche Nachgeschmack eines Pfirsichs aus einem Phantomobstgarten schwand. Er sagte, die richtigen Träume für einen Mann in Gefahr seien Träume von Gefahr, und alles andere sei die Lockung der Trägheit und des Todes.«

Sätze wie diese führen den Leser immer wieder zur Musik Mahlers zurück. Die im ersten, mit dem idyllischen Titel Waldmärchen betitelte Satz des Klagenden Liedes beschworene Natur ist von ähnlich »schmerzhafter« Schönheit und abgründiger Gnadenlosigkeit wie die Träume des Vaters. Hätte sich der junge Rittersmann nur nicht unter dem grünen Weidenbaum, in dem eine »wonnigliche Nachtigall« und ein Rotkehlchen zwitschern, »zur Ruhe sich hingestreckt«! Denn die Ruhe wird eine ewige, wird die Grabesruhe sein. Der Vogelgesang wird ihn nicht rechtzeitig mehr wecken. Der von Mahler selbst gedichtete Balladentext lässt es offen, ob sich die beiden folgenden Verse auf den Augenblick kurz vor oder kurz nach dem Brudermord beziehen:

Der Alte lacht unter’m Weidenbaum, der Alte!
Der Junge lächelt wie im Traum.

Das traumumflorte Lächeln des Ruhenden als Thomas Mann’sche »Sympathie mit dem Abgrund«? Die von der Mahler’schen Musik scheinbar beschworene Romantik ist in Wahrheit ein fragiles »spätzeitliches« Fantasiegespinst, das den geschilderten Horror nicht abzumildern vermag, ihn vielmehr umso krasser hervortreibt.

 

VON DER LIEBE TOD
Das klagende Lied. Kindertotenlieder.

29. September / 2. / 5. / 7. / 10. / 13. Oktober 2022
Musikalische Leitung Lorenzo Viotti
Inszenierung Calixto Bieito
Bühne Rebecca Ringst
Kostüme Ingo Krügler
Licht Michael Bauer
Bühnenbildassistenz Annett Hunger
Mit Vera-Lotte Böcker / Tanja Ariane Baumgartner / Daniel Jenz / Florian Boesch

 

Text Sergio Morabito 
→ Die Zitate aus Die Straße von Cormac McCarthy nach der deutschen, bei Rowohlt erschienenen Paperback Ausgabe, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 72, S. 8, S. 50 und S. 20