Die Wurzeln OFFENLEGEN
Vor 85 Jahren brach die dunkelste Zeit Österreichs an. Praktisch zeitgleich mit dem sogenannten »Anschluss« Österreichs 1938 begannen die Auswirkungen des nationalsozialistischen Terror-Regimes auch in den Kulturinstitutionen zu greifen. Unzählige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden auf der Basis einer menschenverachtenden antisemitisch-rassistischen Ideologie verfolgt, vertrieben, ermordet und von Mitläufern respektive glühenden Anhängern der braunen Aggressoren ersetzt. Anlässlich des 85. Jahrestages des Einmarschs der Nazi-Truppen am 12. März 1938 sprachen wir mit dem renommierten Historiker Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb über die viel zu spät einsetzende Aufarbeitung der NS-Vernichtungspolitik in der Kulturszene seit der Befreiung Österreichs im Jahr 1945 und über neue Ansätze der Beschäftigung mit diesem Thema.
Von NS-Opfern bzw. -Tätern hörte man an den österreichischen Theatern, Museen und sonstigen kulturellen Einrichtungen jahrzehntelang nichts. Auch an der Wiener Staatsoper war die eigene dunkle Geschichte tabuisiert. Erst unter Direktor Ioan Holender, also nach einem halben Jahrhundert, wagte man sich vollständig und ehrlich der Vergangenheit zu stellen.
OLIVER RATHKOLB Die Wiener Staatsoper war hinsichtlich des Verschweigens, des bewussten Vergessens natürlich kein Einzelfall. Genau genommen ist bei allen Kunstdisziplinen hinsichtlich der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eine Übereinstimmung mit der allgemeinen politischen Ausrichtung zu erkennen. Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg eine frühe antifaschistische Phase, die 1946 in der Künstlerhaus-Ausstellung »Niemals vergessen!« gipfelte und letztlich endete. Im Theaterbereich haben vor allem die Amerikaner versucht, kritische Autoren auf die Bühne zu bringen, die sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzten. Aber schon kurz darauf, insbesondere mit der Zulassung einer vierten, rechten Partei der »ehemaligen NSDAP-Mitglieder« für die Nationalratswahl 1949 [die VdU – die Vorgängerpartei der FPÖ], hörte diese kurze Phase auf und die Entwicklung ging in Richtung Reintegration und Amnestierung ehemaliger Nationalsozialisten – ohne ihr tatsächliches Verhalten zu berücksichtigen. Und wenn Jahrestage thematisiert wurden, dann ging es nur um etwaige Zerstörungen durch die Kriegseinwirkungen – im Fall der Oper kamen etwa die Bombentreffer und Zerstörung von 1945 regelmäßig zur Sprache. Einer der negativen Höhepunkte war dann die Affäre rund um den Trompeter Helmut Wobisch, den man mit einem Formfehler zum Geschäftsführer der Wiener Philharmoniker wählte. Wobisch, seit 1933 illegaler Nazi, SS-ler und Beteiligter am Juli-Putsch-Versuch 1934, agierte ab 1938 als Spitzel und schrieb entsprechende denunziatorische Berichte. Da er Anfang der 1950er Jahre noch nicht amnestiert gewesen war, hätte er per Gesetz nicht in den Vereinsvorstand der Philharmoniker gewählt werden dürfen. Um die Situation zu »sanieren«, wurde Wobisch daraufhin von der Bundespräsidentschaftskanzlei gewissermaßen im Schnellverfahren entnazifiziert. Die vielen Auszeichnungen, die Wobisch später erhalten hat, sprechen zusätzlich Bände über diese Mentalität des »das alles spielt keine Rolle mehr«. Übrigens sind in Kärnten heute noch Straßen nach ihm benannt.
Wann begannen die verschiedenen Kunstinstitutionen die Jahre 1938-1945 wieder ans Tageslicht zu holen?
OLIVER RATHKOLB Das Bedenkjahr 1988 stellte sicherlich eine Zäsur dar: Im Rathaus gab es eine eigene Ausstellung, am Rathausplatz eine dazu passende große Veranstaltung auf der der Schoah-Überlebende und Begründer der Logotherapie, Viktor Frankl, mit einer sehr versöhnlichen Ansprache »Wider die Kollektivschuld« zu Wort kam, im Theater in der Josefstadt (Zerreißproben mit Dietmar Schönherr) einen eigenen Abend zu diesem Thema, an der Wiener Staatsoper eine Matinee »Zum Gedenken an den März 1938«, in der Größen wie Franz Kardinal König oder der Komponist Ernst Krenek als Redner geladen waren. Nicht zu vergessen sei noch die Uraufführung von Thomas Bernhards Heldenplatz am Burgtheater unter der Direktion Claus Peymanns, die bekanntlich zu leidenschaftlichen und aggressiven Diskussionen und Kontroversen führte, die weit in die Politik hineinreichten. Wobei – von Heldenplatz abgesehen – der Fokus vorerst auf meist anonymisierter Selbstkritik und auf den Opfern lag. Um die zum Teil noch lebenden Täter ging es hingegen nur sehr selten. Man war vorsichtig und auch für viele der Opfer waren die Wunden selbst 1988 noch zu frisch, um allzu offen über Erlebtes zu berichten. Umgekehrt wirkten selbst damals noch Kräfte an diversen Positionen, die mit allen Mitteln darauf geachtet haben, möglichst viel im Dunkeln zu belassen.
Nur ein Beispiel: Für einen Beitrag über die NS-Kulturpolitik benötigte ich Bundestheater-Akten aus 1938, die damals im Haus-, Hof- und Staatsarchiv am Minoritenplatz lagerten. Der zuständige Archivar verweigerte mir allen Ernstes die Herausgabe beziehungsweise hatte alle Akten, in denen die Wörter Jude oder jüdisch vorkamen, aus dem Konvolut herausgenommen. Erst Jahrzehnte später fand ich die fehlenden Dokumente, die der Betreffende in einer eigenen Box mit der Aufschrift »Judenakte« zusammengeführt verwahrt hatte. Unter Ioan Holender rückte die Wiener Staatsoper, beginnend 1995 mit dem Abend »Ein Haus gedenkt« über die Verhängung des Eisenmenger-Vorhanges, die Umbenennung des Gobelin-Saals in Gustav Mahler-Saal bis hin zur großen Gedenkausstellung 2008 endlich nicht nur die Opfer und die daraus resultierenden künstlerischen Kahlschläge, sondern auch die Täter in das Blickfeld. 1995 konnte ich durch Text- und Materialzusammenstellung diesen besonderen Abend, getragen von Klaus Maria Brandauer und zahlreichen Opern-Stars, mitgestalten, ein wirkliches Erlebnis – mit dem Überlebenden des Ghettos Theresienstadt, dem Opernsänger Karel Berman, als Höhe- und Schlusspunkt. Die Gedenkveranstaltung ging – wie geplant – ohne Applaus zu Ende.
Sie sprachen von einer kurzen antifaschistischen Welle nach 1945. Wenn der Wiederaufbau der Wiener Staatsoper schon in dieser Zeit abgeschlossen worden wäre, hätte Eisenmenger wohl kaum den Zuschlag für den Eisernen Vorhang erhalten.
OLIVER RATHKOLB Vermutlich nicht. Man war vor 1947 noch hellhöriger und hätte kaum einen ehemaligen illegalen Nationalsozialisten beauftragt – wissend, mit was für Werken und an welchen Ausstellungen Rudolf Hermann Eisenmenger teilgenommen hatte.
Gab oder gibt es hinsichtlich der Aufarbeitungsbereitschaft einen Unterschied zwischen den einzelnen Bundesländern?
OLIVER RATHKOLB Heute nicht mehr, aber noch 1988 kam Wien sicherlich eine Vorreiterrolle zu. Zwar gab es durchaus auch im regionalen Bereich Bestrebungen, sich dem Bedenkjahr anzuschließen, aber um wirklich in die Tiefe zu gehen, dafür war die Zeit noch nicht reif. Die kritische Auseinandersetzung in Linz mit dem Gedanken der sogenannten »Patenstadt des Führers« Hitler beispielsweise ist erst Jahrzehnte später 2008/09 passiert.
Inwieweit gingen Akzeptanz und das Wollen um die Aufarbeitung seitens der Künstlerschaft selbst und der Politik Hand in Hand?
OLIVER RATHKOLB Eine schwierige Frage, da mehrere Aspekte hineinspielten. Unter anderem gab es die merkwürdige Position – selbst von Persönlichkeiten, die in Konzentrationslagern gelitten hatten – jenen, denen es gelungen war, vor den Nationalsozialisten ins Ausland zu flüchten, die Opferrolle abzusprechen. Frei nach dem Motto: »Was haben wir alles erdulden müssen, während ihr in Sicherheit wart!« Denken wir beispielsweise nur an den großen Ernst Lothar, der 1938 als Direktor des Theaters der Josefstadt zurücktreten musste und in die Schweiz und später in die USA flüchtete. 1946 kehrte er als US-Kulturoffizier nach Österreich zurück und wurde fast des Landesverrats beschuldigt.
Welcher Stellenwert kommt dem Ausland zu, ausständige Diskussionen in Österreich in Gang zu bringen?
OLIVER RATHKOLB Es gab natürlich auch eine globale Entwicklung. Ohne die inneramerikanische Auseinandersetzung über Nazi-Kriegsverbrecher, die illegal in die USA gebracht wurden, um die Rüstungsindustrie und die NASA mitaufzubauen, wäre auch bei uns so manches noch später aufgekommen. Man kann geradezu von einem transatlantischen Diskurs sprechen.
Wie soll man sich heute und in Zukunft diesem Thema nähern, um junge Generationen zu sensibilisieren?
OLIVER RATHKOLB Es ist spannend zu sehen, dass jede Generation von sich aus versucht, einen eigenen Weg und noch Unaufgearbeitetes zu entdecken – ich orte diesbezüglich eine Art Zehnjahreszyklus. Außerdem scheinen bestimmte Themen manchmal auf den »richtigen« Zeitpunkt zu warten. Ende der 1990er Jahre habe ich in den USA auf einem Kongress einen Vortrag halten, in dem ich auf die schmutzigen Deals einging, die im Zuge von Kunstrestitutionen entstanden sind: Man gab von den Nazis geraubte Sammlungen an die rechtmäßigen Erben nur zurück, erlaubte die Ausfuhr aber nur, wenn diese »freiwillig« einen Teil als »Schenkung« an Museen – wie beispielsweise das Kunsthistorische Museum – abgaben. Doch der Hinweis auf diese Praxis stieß damals auf kein großes Echo. Aber nur wenige Jahre später wurde die Frage ganz groß und international diskutiert und mündete bei uns in einem eigenen Kunstrestitutionsgesetz. Ein anderes Beispiel: Die aktuelle, wichtige Debatte rund um das Lueger-Denkmal steht im Zusammenhang mit einem bisher noch zu wenig aufgearbeiteten Themenkomplex – der Frage nach dem Antisemitismus im 19. Jahrhundert und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Und da haben nahezu alle Schuld auf sich geladen. Bis weit in die Zwischenkriegszeit hinein wird etwa sowohl in der christlichsozialen Reichspost als auch in der sozialdemokratischen Arbeiterzeitung (dort vor allem wenn es gegen Unternehmer und Banker ging) auf übelste und radikale Weise antisemitisch bzw. rassistisch gehetzt. Die antisemitische Traditionen der katholischen und evangelischen Kirche reichen noch viel weiter zurück. Den Boden für die Nazi-Agitation hat also bis zu einem bestimmten Grad eine Gemengelage an politischen Richtungen und Agitationen bereitet. Im Falle der Staatsoper betrifft es beispielsweise die Person Gustav Mahlers, der von seiner Ernennung zum Hofoperndirektor an mit rassistischen Anfeindungen zu tun hatte, aber auch viele andere, weniger bekannte Künstler, die immer wieder zur Zielscheibe wurden. Die Schnelligkeit, mit der etwa an der Wiener Staatsoper 1938 präzise Entlassungs-Listen auftauchten, die genau klassifizierten, wer Jude war, wer mit einer Jüdin verheiratet war, wer jüdische Vorfahren hatte usw. zeigt nur, dass man schon mit einem rassistischen Kainsmal versehen war, bevor die Nazis kamen. Hier gilt es also – auch für die Kulturinstitutionen – in der Geschichte zusätzlich ein Stück weit zurückzugehen, um jene Wurzeln aufzudecken, die letztlich die nationalsozialistischen Verbrechen und die Schoah mitbedingten.
Das Gespräch führten Andreas und Oliver Láng