Das Staatsopernorchster: Josef Hell, Stimmführer der 1. Violinen

Zwischen 1958 und 1965 spielten Sir György Solti, die Wiener Philharmoniker und einige der namhaftesten Sänger der damaligen Zeit Wagners kompletten Nibelungenring in den Wiener

Sofiensälen ein: Die Plattenfirma Decca scheute weder Geld, Zeit noch Aufwand – für den Donner im Rheingold hatte man etwa bei der Voest ein eigenes Riesenblech bestellt, das auf einem mehrere Meter hohen Galgen hängend zum Klingen gebracht wurde – herausgekommen ist eine bis heute gültige und begeisternde Referenzaufnahme der Tetralogie. 1964 war die Götterdämmerung an der Reihe und unter den Glücklichen, die bei den Aufnahmesitzungen dabei sei durften, war der damals neunjährige Josef Hell. Sein Vater, Trompeter bei den Wiener Philharmonikern, hatte den musikbegeisterten Buben mitgenommen, um ihm Gelegenheit zu geben, Zeuge einer Sternstunde der Plattengeschichte zu werden. Der Eindruck auf Josef Hell muss offenbar berauschend gewesen sein, denn es festigte bleibend seinen schon davor keimenden Wunsch selbst einmal Musiker zu werden. „Ich bin oben in der Loge gesessen und erlebte einen energiegeladenen Solti, Solisten wie Nilsson, Windgassen, Frick und Fischer-Dieskau in Bestform, dieses wunderbare Orchester sowie fanatische Aufnahmeleiter und Toningenieure – spätestens von dieser Zeit an war ich endgültig süchtig nach Oper“, erinnert er sich zurückblickend.

Den Wunsch Geige zu spielen hatte Josef Hell bereits im Vorschulalter geäußert und seine Eltern gaben seinem Drängen schließlich gerne nach, zumal seine immense Liebe zur Musik von Anfang an unübersehbar war: Schon als Kleinkind lauschte er beispielsweise, regungslos auf dem Schoß der Mutter sitzend, gebannt der Wiedergabe einer Bruckner- Symphonie und das Mitverfolgen einer Opern- Vorstellung aus dem Orchestergraben gehörte zu den größten Freuden die man ihm erfüllen konnte. Später, in der Gymnasialzeit, verbrachte Josef Hell unzählige Abende auf dem Stehplatz der Wiener Staatsoper, sodass er das Haus am Ring sehr bald als zweites Zuhause betrachtete, was es ja auch tatsächlich werden sollte: Knapp anderthalb Jahre nach der Matura gewann er das Probespiel für eine Stelle als Sekundgeiger im Staatsopernorchester (den Gedanken an ein Medizinstudium hatte Josef Hell übrigens so rasch wie er gekommen ist, wieder fallen gelassen) und hatte sich damit seinen Traum, früher als gedacht und erwartet, erfüllt. Doch bei dieser Position blieb es nicht: zwei Jahre später war er Stimmführer der Sekundgruppe, 1986 Stimmführer der 1. Violinen. Ungefähr zu dieser Zeit erhielt Josef Hell zusätzlich eine Assistenzstelle an der Musikuniversität bei seinem ehemaligen Lehrer Klaus Maetzl und wurde zuständig für die Orchesterliteratur – und nach dem tragischen Unfalltod von Konzertmeister Gerhart Hetzel übernahm er in den 90er-Jahren schlussendlich dessen Klasse (mittlerweile sind einige von Josef Hells ehemaligen Studierenden fix im Staatsopernorchester). Wenn man dann noch bedenkt, dass Josef Hell auch Soloabende und Kammermusikauftritte absolviert, stellt sich vielleicht die Frage, ob er bei so einem Arbeitspensum nicht einmal die Lust an seiner Berufung verlieren könnte? Kann man sich bei so viel Musik über die Jahre tatsächlich die Freude an ihr erhalten? Offensichtlich – denn Hell kann auch in seiner Freizeit nicht auf Musik verzichten, gestaltet sogar gemeinsam mit einem Rechtsanwalt eine monatliche Musik-Sendung auf ORANGE 94.0 (Kraft & Hell). Und wenn jemand auf der Autobahn fährt, im Radio die Callas als Amina in Bellinis Sonnambula hört und daraufhin, wie Hell, auf den Pannenstreifen fährt, um ungestört zuhören zu können, dann ist er in Wahrheit, ohne jeden Zweifel und unrettbar für immer der Musik verfallen. Entsprechend spannend und lehrreich ist es, mit ihm über Dirigenten, Interpretationen und Aufführungstraditionen zu sprechen. Man erfährt, dass Kleiber und Karajan bei den Proben bevorzugt bildliche Vergleiche herangezogen haben, um bestimmte klanglich-atmosphärische Effekte zu erreichen, dass Karl Böhm seine Tempi bei den Mozartsymphonien stets auf die Raumakustik der jeweiligen Konzertsäle abstimmte, dass der spezielle Wiener Klangdialekt, die Klangfarbe und Klangstilistik weniger durch konkrete Hinweise älterer Kollegen als durchs ständige genaue Hinhören erlernt wird. Als Musiker eines Opernorchesters ist Josef Hell ein großer Befürworter des Repertoiresystems (in seinen ersten Monaten standen bis zu 20 verschiedene Werke auf dem Spielplan) – schon auf Grund der großen Abwechslung und der unterschiedlichen Herausforderungen. Außerdem freut es ihn, die selben Werke regelmäßig mit unterschiedlichen Dirigenten und Interpreten erarbeiten zu können: „Ich glaube, dass die großen Meisterwerke so unergründlich sind, so unendlich viel bieten, dass man immer etwas für einen selbst Unerwartetes und Unbekanntes herausfinden kann. Als Kirill Petrenko zum Beispiel den Rosenkavalier mit uns an der Wiener Staatsoper gemacht hat, waren wir begeistert – von den Aufführungen, aber auch von den Proben. Denn obwohl wir das Stück an sich wirklich gut kennen, konnte uns Petrenko viel Neues in der Partitur erschließen.“Und wie sieht es bei so viel Erfahrung mit dem privaten Üben und dem Lampenfieber aus? Nun, gerade weil Josef Hell der Beruf und die Musik so sehr am Herzen liegen, sind bei ihm beide Aspekte nach wie vor existent: Bestimmte Passagen müssen vor jeder Vorstellung wie Etüden geübt werden – etwa die Rheintöchterszene in der Götterdämmerung – und manche Vorstellungs-Dienste sind ohne Nervosität nicht absolvierbar. Bezüglich des Übens sei abschließend noch eine lustige Gegebenheit angeführt, die Josef Hell im Gespräch mit dem Prolog erzählt hat: Als Lorin Maazel bei einer Probe zu einer Strauss-Oper einen Musiker bat, die Noten etwas genauer zu spielen, entgegnete dieser, dass es Strauss nicht um einzelne Töne, sondern um eine bestimmte Farbe gegangen wäre. Die Antwort Maazels lautete: „Wenn Sie nicht die richtigen Noten spielen, ist auch die Farbe eine andere.“

Andreas Láng