© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

AMALGAM DER BESTEN FÄHIGKEITEN

Es gibt im Opernbusiness Karrieren, die regelrecht explodieren. Ein Wettbewerbsgewinn hier, eine triumphale Premiere an einem internationalen Opernhaus dort; und am nächsten Tag wissen die »Wichtigen« den Namen des zukünftigen »Stars«. »Kaufen! Kaufen!« heißt dann die Devise. Dass die Objekte der Begierde für einen solch rasanten Aufstieg oft noch gar nicht gerüstet sind, erweist sich erst mit Verzögerung. Dann wird der junge Mensch gnadenlos wieder fallengelassen. Manche Opfer erholen sich von diesem Ritt auf der Opernhochschaubahn nie mehr.

Und dann gibt es Karrieren, die fangen eher unspektakulär an. Die Kurve der »Sängeraktie« steigt ruhig, aber ständig nach oben. Das Risiko, im volatilen Sängermarkt kaum beachtet zu werden, ist zwar erheblich größer, bietet aber auch die Möglichkeit, sich künstlerisch kontinuierlich und ohne ständigen Erwartungsdruck zu entwickeln.

Benjamin Bernheim gehört eindeutig in die zweite Kategorie. Er ist der Gegenentwurf zum Hoppla-jetzt- komm-ich-Tenor mit großem Ego und dem Drang, überall auf der Welt berühmt zu sein. Dennoch hat er sich in den letzten zehn Jahren immer weiter hinauf in die Reihe der führenden Tenöre seiner Generation geschoben; Ergebnis einer klugen und umsichtigen Karriereplanung. Diese Bedächtigkeit hat sicherlich auch mit Bernheims persönlicher Geschichte zu tun. Als Sohn einer Sängerfamilie in der französischen Schweiz aufwachsend, kam er bereits als Kind mit dem Opernmetier in Kontakt, ohne dessen Zauber sofort mit Haut und Haar zu verfallen. Erst mit einiger Verzögerung und erheblichen Selbstzweifeln fing er mit dem Gesangsstudium an, dessen erster Erfolg ein Platz im renommierten Zürcher Internationalen Opernstudio war. Dort hatte er Gelegenheit, die besten Kollegen bei der Arbeit zu beobachten und zu reifen. Aber auch danach war für Bernheim noch keineswegs ausgemacht, dass er auf dem glatten Opernparkett würde reüssieren können. Erst ein Festengagement an die Zürcher Oper und erste Auslandsengagements (u.a. zu den Salzburger Festspielen) stärkten seine Selbstsicherheit und machten seinen Namen langsam international bekannt, ohne dass es zu dem einen, oben beschriebenen Karriere-Urknall gekommen wäre. Das mag auch daran liegen, dass Bernheim zwar zweifellos eine außerordentlich schöne lyrische Tenorstimme besitzt, sich aber nicht richtig einordnen lässt. Denn als Schweizer kann er mühelos auch sprachlich zwischen französischem, italienischem und deutschem Repertoire wechseln. Erst langsam kristallisierte sich die Richtung heraus, in der Bernheim inzwischen auch international quasi zur Benchmark geworden ist: jedes internationale Opernhaus denkt heute bei der Besetzung von Partien wie Rodolfo in La bohème, Herzog in Rigoletto, Nemorino in L’elisir d’amore, Edgardo in Lucia di Lammermoor, Des Grieux in Manon oder bei der Titelrolle in Werther sofort an Bernheim. Auch an der Wiener Staatsoper ist er seit 2018 immer wieder ein gern gesehener Gast und Publikumsliebling.

Benjamin Bernheims Stimme und Gesangsstil sind in ihrer Grundstruktur durch seine französisch-sprachige Herkunft geprägt. Seine Interpretationen zeichnen sich durch Eleganz und Leichtigkeit aus, die ihn zum legitimen Nachfolger von legendären französischen Tenören der Vergangenheit wie Georges Thill oder Alain Vanzo machen. Seine Stimme ist in jeder Lage ausgeglichen und kann mühelos in allen dynamischen Schattierungen glänzen. Gleichzeitig hat Bernheims Stimme in den letzten Jahren auch eine Dramatik hinzubekommen, die es ihm erlaubt, an stimmlichen Höhepunkten fast schon heldisch aufzutrumpfen. Er selbst nennt als seine Vorbilder große Tenöre wie Carlo Bergonzi (mit dem er gearbeitet hat), Nicolai Gedda und Giacomo Aragall. In der Tat wirkt er bisweilen wie ein Amalgam der besten Fähigkeiten dieser drei. An Bergonzi erinnert die makellose Phrasierung, an Gedda die technisch perfekte Beherrschung von Stimme und Diktion; und an Aragall die Natürlichkeit der Rolleninterpretationen.

Noch ist Benjamin Bernheim keine Vierzig, und es ist zu erwarten, dass er sich immer weiter entwickeln wird. Wohin die Reise führen wird, ist noch nicht abzusehen. Aber bereits jetzt ist ihm ein Platz unter den Besten seiner Generation sicher, egal, ob am Ende auch eines fernen Tages ein Lohengrin oder Otello auf ihn wartet. Mit seiner Mischung aus emotionaler und intellektueller Intelligenz wird Bernheim zur rechten Zeit die richtigen Entscheidungen treffen. Für ihn gilt: »The sky is the limit!«
 

Rodolfo (La bohème)
19. / 22. / 25. / 28. / 31. Jänner 2023