Was genau wird hier gelehrt? »La scuola degli amanti«, »Die Schule der Liebenden«, lautet der Untertitel zu Lorenzo Da Pontes Libretto (vom Dichter war er ursprünglich als eigentlicher Haupttitel gedacht). Vordergründig ist das Ausbildungsziel Don Alfonsos, des »alten Philosophen«, der Verlust sämtlicher Illusionen über Liebe und Treue. Auf dem Weg dorthin werden die Liebenden in sämtlichen Haupt- und Nebenfächern eines komplizierten (Liebes-)Lebens unterrichtet: Vertrauen, Verführung, Täuschung, Hingabe. Die Conclusio am Schluss, das titelgebende »So machen’s alle (Frauen)«, muss dann durchaus nicht als Ende der Ausbildung gesehen werden: Was sie aus dieser vermeintlichen Erkenntnis machen, ist vielmehr eine Frage an alle Beteiligten.
Mit Lorenzo Da Ponte hatte Mozart endlich den Dichter gefunden, mit dem zusammen er jenen »wahren Phoenix« bildete, als den er 1781 in einem Brief an seinen Vater die Verbindung eines »guten Komponisten« und eines »gescheiden Poeten« beschrieben hatte. Der »gute Komponist« sollte dabei einer sein, der »das Theater versteht und auch etwas anzugeben imstande ist«. Mozart war dieser Theaterkomponist. Così fan tutte zeigt das in noch deutlicherer Weise als Le nozze di Figaro und Don Giovanni davor: Von 31 Musiknummern enthält die Scuola degli amanti nur elf Soloarien, der Rest sind Ensembles.
Mozart und Da Ponte fuhren also mit der schon im Figaro begonnenen Praxis fort, das althergebrachte Verhältnis zwischen handlungstreibenden Rezitativen und »stillstehenden« Gesangsnummern aufzubrechen: Immer mehr Handlungselemente werden in die Musiknummern verlegt. Geschrieben hatte der vielbeschäftigte Lorenzo Da Ponte Così fan tutte ursprünglich nicht für Mozart. Antonio Salieri hatte bereits mit einer Vertonung begonnen (vermutlich 1789), diese aber bald wieder aufgegeben. Für Mozarts Oper sind Änderungen Da Pontes am Text belegt, die auf eine Reihe von Wünschen des Komponisten an den Dichter schließen lassen.
Neu ist bei dieser dritten und letzten Zusammenarbeit von Mozart und Da Ponte, dass der Dichter keine direkte Schauspiel- oder Librettovorlage bearbeitete, sondern aus einer Vielzahl von Quellen ein »Originallibretto« schuf. So fand er etwa das Motiv der Treueprobe – ein eifersüchtiger Gatte in Verkleidung oder ein von ihm Beauftragter prüft, ob die Ehefrau sich verführen lässt – in der Geschichte von Cephalus und Procris in Ovids Metamorphosen und in der Neunten Novelle des Zweiten Tages von Giovanni Boccaccios Decamerone. Dort ist auch das Motiv der Wette um die Treue verarbeitet, das bei Da Ponte zu der Wette wird, die Guglielmo und Ferrando mit Don Alfonso eingehen. Und schließlich haben auch alle Frauenfiguren in Così fan tutte Vorbilder in einem klassischen Werk: In Ludovico Ariosts Orlando furioso (1516) begegnet uns eine Fiordiligi, treue Ehefrau des Brandimarte; eine Doralice, die sich von den Verführungskünsten eines Sarazenenfürsten überzeugen lässt; und schließlich eine Fiordispina, die sich unglücklich in die Kriegerin Bradamante verliebt.
Das Werk kann also mit einer Fülle an Verweisen auf die literarische Tradition aufwarten (auch Spuren von Shakespeare und Mari- vaux fehlen nicht) – und war doch lange Zeit von den drei Mozart-Da-Ponte-Opern am schlechtesten beleumundet. Die Geschichte, in der Dorabella und Fiordiligi ihre abwesenden Verlobten aufgeben und sich mit zwei Fremden einlassen, galt von der Uraufführung an vielen als ungeheuerlich. Tatsächlich wirkt das finale »So machen’s alle Frauen« wie eine Forterzählung des Geschlechterbildes, das schon die angesprochene Novelle aus dem Decamerone vermittelt: Selbst der Mann, die Krone der Schöpfung, ist oft nicht zur Treue fähig; von der Frau, diesem von Sinnlichkeit bestimmten Wesen, kann man sie schlicht nicht erwarten. Im Decamerone ist diese Rollenzuschreibung Voraussetzung für die Männerfantasien von lüsternen Nonnen und ehebrecherischen Gattinnen, die Boccaccios Novellen bevölkern. In Così fan tutte ist das Ende versöhnlich und lässt Spielraum, den Fragen nachzugehen, die das Werk zusammen mit Mozarts wunderbarer Musik bereithält: Was bedeutet »Verführung«, und wie geht sie vor sich? Wie funktioniert eine Verkleidung, die es unmöglich macht, den eigenen Verlobten und den der eigenen Schwester zu erkennen? Und schließlich: Was steckt hinter einer Figur wie Don Alfonso, dessen Triumph – abgesehen vom gewonnenen Geld – letztlich nur darin besteht, das Vertrauen einiger junger Leute in die Liebe und ineinander erschüttert zu haben?