Zwischen realem und surrealem
Wenn schon Neuproduktionen einer bereits bekannten Oper gewissermaßen die Feiertage im Kalender einer Musiktheaterinstitution darstellen, um wie viel mehr dann Uraufführungen! Sie sind gewissermaßen die (leider) rar gewordenen Feiertage unter den Feiertagen: die wirklich neuen Kapitel, manchmal sogar Wegmarken in der sich stets fortschreibenden Musikgeschichte. Die bald 150-jährige Geschichte der Wiener Staatsoper ist bekanntlich nicht gerade reich an solch wichtigen Momenten, dennoch durften auch in diesem Haus einige wesentliche Werke das Licht der Bühnenwelt erblicken. In wenigen Monaten, genauer am 8. Dezember, ist es nun endlich wieder so weit: Die Weiden, eine abendfüllende Oper des aus Tirol stammenden Komponisten Johannes Maria Staud und des deutschen Lyrikers Durs Grünbein, soll hier ihren musikalischen Weltenlauf beginnen… je näher der Uraufführungstermin rückt, desto größer wird verständlicher Weise die erwartungsvolle Spannung innerhalb der Musikwelt.
Kompositionsaufträge erhielt Staud unter anderem von den Wiener und Berliner Philharmonikern, vom Cleveland Orchestra, den Salzburger Festspielen; Opernuraufführungen brachte er bislang bei der Münchener Biennale oder dem Lucerne Festival heraus – die nun folgenden Weiden sind seine erste Arbeit für die Wiener Staatsoper. Um die Wartezeit etwas zu verkürzen, bringen wir diesmal und in den nächsten Ausgaben des Prolog bis zur Uraufführung einige Annäherungen an das Werk und seine Schöpfer.
Angefangen hat alles 2014. Staud und Grünbein standen knapp vor der Uraufführung ihrer zweiten gemeinsamen Oper Die Antilope, als die Wiener Staatsoper den Komponisten mit einem Opernauftrag überraschte – und das im wahrsten Sinn des Wortes: „Meine Frau lag im Spital, die Geburt unseres Sohnes stand kurz bevor und die Premiere der Antilope lag schon in Greifnähe. Genau in diese emotionale Ausnahmesituation platzte die unerwartete Frage: ‚Möchten Sie nicht eine Oper für die Staatsoper schreiben?‘ Was soll ich sagen – dieses Datum, den 19. Mai, werde ich wohl nie vergessen“, schildert Johannes Maria Staud den überaus bewegenden Tag.
Er sagte zu und im Juni 2018, also ziemlich genau vier Jahre später, ist das Werk im Wesentlichen beendet – und so lässt sich bei einem Kaffee in der Nähe der Oper schon durchaus entspannter auf eine Zeit des Suchens, Ringens und künstlerischen Gebärens zurückblicken.
Von Anfang an stand fest, dass das auf einander eingespielte Team Staud-Grünbein auch in diesem Fall zusammenarbeiten würde (die notwendigen und künstlerisch befruchtenden Kontroversen waren gewissermaßen von vornherein einkalkuliert). In den ersten Monaten gingen die beiden zahllose mögliche Themenfelder durch, vieles wurde gelesen, intensiv diskutiert, verworfen, neu überdacht. Für eine eskapistische Künstleroper etwa, schien, nach der Flüchtlingskrise 2015 und den daraus resultierenden politischen Reaktionen, nicht die richtige Zeit zu sein, es sollten vielmehr Dinge angesprochen werden, die die Menschen heute bewegen, keine fiktive Epoche also, sondern das Hier und Jetzt: Bedenkt man die internationale Strahlkraft der Wiener Staatsoper, so geht es ja nicht zuletzt auch um das (künstlerische) Wahrnehmen der gesellschaftspolitischen Verantwortung. Schlussendlich kristallisierte sich ein Gedanke heraus: Eine Reise, entlang an einem großen Strom. Mehrere literarische Vorlagen – Joseph Conrads Heart of Darkness, ferner The Willows des englischen Horrorschriftstellers Algernon Blackwood sowie Howard Phillips Lovecrafts The Shadow over Innsmouth wurden zusammengeführt respektive als Basis einer neuen Geschichte gewählt, die als verzweifelter Aufschrei verstanden werden soll, als hingeworfener Fehdehandschuh an die Bürger eines wohlhabenden Kontinents, an die Bürger wohlhabender Länder die, getrieben von irrationalen Ängsten, hemmungslos die Ideale der Aufklärung über Bord werfen und sich den Rattenfängern des Hasses willenlos hingeben.
Wichtig war Johannes Maria Staud und Durs Grünbein allerdings, dass hier nicht ein moralischer Zeigefinger erhoben wird, kein diskurspolitisches Stück vorgestellt wird. „Wir wollen nicht Politik machen mit unserer Oper, wir machen Kunst“, so Staud, „und deshalb changieren Die Weiden zwischen Realem und Surrealem. Wir zeigen im poetischen Modell, was uns unter den Fingern brennt.“ Die Reise am Strom von der hier berichtet wird, beginnt idyllisch, eine junge Frau möchte gemeinsam mit ihrem Geliebten dessen Heimat erkunden, doch mit der bieder scheinenden Bevölkerung, vor der die Eltern der jungen Frau gewarnt haben, stimmt etwas nicht: Drohendes und Gefährliches bricht nach und nach unter der freundlichen Fassade hervor und schließlich beginnen die meisten eine sonderbare, gruselige Verwandlung durchzumachen: sie mutieren stückweise zu kaltblütigen Karpfen – genauso wie dies schon einmal, in einer dunklen und schrecklichen Zeit, geschehen war…
Andreas Láng
Die Weiden | Johannes Maria Staud
Uraufführung: 8. Dezember 2018
Reprisen: 11., 14., 16., 20. Dezember 2018