© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Zwischen Ersatzvater und Stiefvater

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In ihren letzten Stunden ist Salome mit zwei Männern konfrontiert, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Mit König Herodes, der sie anwidert und dem Propheten Jochanaan, der auf sie einen ihr unbekannten, unwiderstehlichen Reiz ausübt. In je einem Gespräch mit den Interpreten von Herodes (Gerhard Siegel) – soll eine Standortbestimmung der beiden Charaktere und ihre Beziehung zu Salome definiert werden.


Was sieht Herodes in Salome?

GERHARD SIEGEL Es war Herodias, die durch die Heirat mit Herodes ihre Macht ausbauen wollte und darauf drängte, von ihrem ersten Mann – dem Bruder des Herodes – dauerhaft loszukommen. Herodes selbst hat Herodias möglicherweise nie geliebt, jedenfalls war von einer Zuneigung bald nichts mehr
zu spüren und die gegenseitige Antipathie der beiden kommt in der Oper sehr klar zum Ausdruck. Herodes wird sich also sehr rasch auf die Seite des in die Ehe mitgebrachten Kindes, Salome, geschlagen haben – auf die Seite des liebenswerteren Partes in dieser merkwürdigen Patchworksituation. Zumindest wird er versucht haben, eine Verbindung zu ihr aufzubauen.


Im Allgemeinen wird Herodes als Lüstling, gar als Missbrauchstäter empfunden. Nun sehen wir in dieser Produktion, nicht zuletzt durch das Live- Video-Element, Details – etwa wie Herodes seine Hand geradezu zärtlich auf jene der Salome legt –, die von einer etwas komplexeren Persönlichkeit erzählen

GERHARD SIEGEL Die Oper selbst liefert letztlich keinerlei Beweise dafür, dass Herodes Salome wirklich missbraucht hätte. Die Frage ist in dieser Produktion auch nicht vordergründig, wobei natürlich gerade das Bloßstellen durch Videoprojektionen zweifelsohne eine Form des Missbrauchs darstellt. Aber es gibt tatsächlich noch eine weitere Ebene, eine Art Stiefvater-Stieftochter-Beziehung, die unverdächtig ist, oder es zumindest am Beginn war. Dieses »Iss mit mir von diesen Früchten, den Abdruck deiner kleinen weißen Zähne in einer Frucht seh’ ich so gern« kann beispielsweise durchaus als gemeinsame Erinnerung an unverfängliche spielerische Momente aus Salomes Kindheit interpretiert werden, die hier von Herodes gewissermaßen zitiert werden.


Herodes verspricht Salome, um sie von ihrer Forderung nach dem Kopf des Jochanaan abzubringen, sogar den Platz an seiner Seite. Ist das ernst gemeint, würde er sie gegen Herodias »eintauschen«?

GERHARD SIEGEL Das würde er sicher gerne tun, nur stehen diesem Wunsch zwei wesentliche Hindernisse entgegen: Herodias besitzt sicher noch zu viel Macht im Palast, um einfach beseitigt zu werden und Salome dürfte ihrer seits wenig Interesse an so einer Beziehung haben.


Warum lässt Herodes Salome am Ende töten? Und warum gestattet er davor, dass sie den Kopf bekommt?

GERHARD SIEGEL Sein »Man töte diese Weib« ist sicherlich eine Kurzschlusshandlung, die er später möglicherweise bereut. Dass er ihr den abartigen Wunsch gewährt, ist wiederum als Resignation zu werten. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir einen Menschen vor uns haben, den Gewissensbisse – zu- mindest Aufgrund der Ermordung des Bruders – immer weiter in einen alptraumhaften Wahnsinn treiben. Einen kühlen, strategisch handelnden Machthaber sehen wir keinen Moment lang auf der Bühne. Herodes gerät gewissermaßen immer wieder und immer mehr unter die Räder der eigenen psychischen Entgleisung. Auch seine Weigerung Jochanaan töten zu lassen, resultiert aus einem dumpfen Angstgefühl heraus: Was, wenn das wirklich ein Prophet ist, was wenn dessen Drohungen Wirklichkeit werden und es ihm selbst an den Kragen geht?


Wäre das Verhältnis der beiden anders geartet, wenn Herodes Salome erst als 18, 19jährige kennengelernt hätte?

GERHARD SIEGEL Herodes’ Problem mit Salome zum Zeitpunkt der Handlung ist, dass sie ihn unentwegt öffentlich brüskiert. Wenn Salome aber bereits als 14jährige einen derartigen Widerstand an den Tag legt, ist davon auszugehen, dass es für Herodes ein paar Jahre später noch unmöglicher gewesen wäre, an sie heranzukommen. Es sei denn, durch Anwendung von Gewalt – aber da sind wir wieder bei der Frage des Missbrauchs. Salome hätte in so einem Fall rasch irgendeine Form des Ausstiegs gefunden.


SALOME
2. (Premiere) / 4. / 8. / 10. / 12. Februar 2023
Musikalische Leitung Philippe Jordan
Inszenierung Cyril Teste
Künstlerische Mitarbeit Céline Gaudier
Bühne Valérie Grall
Kostüme Marie La Rocca
Licht Julien Boizard
Video Mehdi Toutain-Lopez
Video-Livekamera Rémy Nguyen
Choreographie Magdalena Chowaniec
Dramaturgie Sergio Morabito
Mit u.a. Malin Byström / Iain Paterson / Gerhard Siegel / Michaela Schuster / Daniel Jenz / Patricia Nolz