Wie ein Baum im Wald
Im Jahr 2018 debütierte die südafrikanische Sopranistin Golda Schultz als Gräfin Almaviva an der Wiener Staatsoper, international pendelt sie zwischen der Mailänder Scala, der New Yorker Met, der Münchner Staatsoper und dem Royal Opera House Covent Garden. Als Liù kehrt die Sängerin nun ins Haus am Ring zurück.
Sie haben an der Universität von Kapstadt und an der Juilliard School in New York studiert und waren lange Zeit in München im Ensemble. Unterschiedliche Welten? In ihrer Annäherung an die klassische Musik? An die Oper?
Golda Schultz: Die kurze Antwort lautet: ja. In Südafrika, weil es so fern von den Quellen der klassischen Musik liegt, haben wir im Vergleich zu Zentraleuropa weniger Zugang zu einer entsprechend großen Anzahl an bekannten Lehrern. Aber gerade weil wir so weit entfernt sind, macht es uns oftmals kreativer in der Frage, einen Anschluss an das entsprechende Musikleben zu finden. Aber ganz allgemein gesagt: Letzten Endes versuchen wir Musiker doch immer, unsere beschränkten Lebenserfahrungen auf das Allgemeine zu extrapolieren, sodass das Publikum ein wenig mit dem Göttlichen in Kontakt kommt. Nachdem ich nun der Heimat der klassischen Musik näher gerückt bin, habe ich etwas erkannt: Und zwar, dass die Lektion, die ich in Afrika gelernt hatte, nämlich die Fragen und Probleme nicht immer direkt anzusteuern, sondern sie gewissermaßen zu umrunden, mich oftmals näher ans Herz des Göttlichen bringt. Und das ist ein Geschenk, das ich niemals verlieren werde. Also: Ja, unsere Welten sind unterschiedlich, aber wie alle Dinge, die die Conditio humana ansprechen: unsere Welten sind die gleiche Welt!
Lauscht man Ihrer Liù, kann man sich des Eindrucks einer Nahebeziehung zur Rolle nicht entziehen. Und tatsächlich stand die Partie in den letzten Jahren verstärkt auf Ihrem Auftrittsplan.
Golda Schultz: Schon als Studentin träumte ich davon, als Liù auf der Bühne zu stehen. Meine Lehrerin hatte die Partie in Südafrika viele Male gesungen – und in meiner Erinnerung ebenso gut wie Montserrat Caballé. Ich ging mit ihr jede Note, jede Phrase durch, studierte ihren Klavierauszug und fragte bei jedem Ton nach, warum sie ihn gerade so und nicht anders gestaltet hatte. Und all das Wissen landete in meinen Noten. Dann folgten Jahre, in denen ich immer wieder darum bat, Liù einmal öffentlich singen zu dürfen – bis ich endlich 2014 in München die Gelegenheit dazu bekam. Es war genau der rechte Augenblick! Ich spürte, dass meine Liù einfach passt und das, was ich über ihren Charakter und ihre Reise zu sagen habe, es wert ist, gesagt zu werden. Puccini ist ein Faible für leidende und sterbende Frauen nicht abzuleugnen.
Ist Liù ein Charakter, der tatsächlich menschlich ist oder ist sie eine Art Idealtypus einer Frau Puccini’scher Prägung?
Golda Schultz: Ich denke, dass alle Charaktere in der Oper eine Art eines Idealbildes sind. Natürlich, sie können auf Tatsachen basieren, aber letztendlich übernimmt die Vorstellungskraft des Autors das Ruder und entwirft ein Handlungsmuster, das „echte“ Menschen vielleicht nicht immer wählen würden. Liù ist genau so jemand: Sie ist keine, deren Charakter im Leiden basiert, sondern vollkommen in der Idee der Liebe. Sie beantwortet die ewigen Fragen: Was ist heilig? Woraus ist der Geist geschaffen? Wofür lohnt es sich zu leben – und zu sterben? Liebe und nur für Liebe (bei diesem Zitat habe ich mich eines meiner Lieblingsfilme, Don Juan DeMarco, bedient).
Sie ist also nicht in der Opferrolle gefangen? Ist sie, aufgrund ihres Opfers, stärker als die anderen?
Golda Schultz: Natürlich ist es leicht zu sagen, dass ein Sklave immer ein Opfer ist. Aber sogar am Beginn der Geschichte zeigt Puccini, dass Liù die Chance hätte, zu gehen. Als Timur alleine war, in seiner zerstörten Heimat, da fand ihn ihre Stimme und führte ihn durch die Wildnis. Ihre Stimme ist es, die ihn im Dunkeln in Sicherheit bringt. Da ist sie kein Opfer. Und als sie vor den Massen geschlagen wird, bleibt sie ihrem moralischen Kodex treu. Da ist sie auch kein Opfer. Ich denke hier nicht in Begriffen wie stark oder schwach. Ich sehe sie wie einen Baum im Wald: beständig, still und tröstend.
Nun scheint es zwei Arten der Liebe in Turandot zu geben: die opfernde und die bezwingende, siegende. Zweitere scheint zu gewinnen, wird jedenfalls mit einem Happy End belohnt.
Golda Schultz: Diese zweite Art der Liebe gewinnt so lange nicht, bis Turandot nicht erkennt, dass Calaf es wert ist zu sterben. Durch Liùs Opfer, ihr reines Geschenk des Schweigens, gibt sie ihm, was er sich am meisten ersehnt: die Verbindung mit Turandot. Liù ist bereit, jene zu sein, die die beiden letztlich zusammenzuführt, indem sie Turandot durch ihren Tod das Geschenk der Erkenntnis gibt: dass nämlich dieser Mann – Calaf – des Vertrauens würdig ist. Liù und Turandot sind in vieler Hinsicht dieselbe Frau ... Es ist kompliziert: Wir, alle Frauen, fürchten Männer, die sagen, dass sie uns lieben. Aber wir wissen auch, dass wir uns der Hoffnung hingeben müssen, damit ein Mann zum Liebhaber wird. Ich kann mich an ein Gespräch mit einem Freund über den Unterschied, wie Männer und Frauen Beziehungen sehen, erinnern: Männer fürchten Zurückweisung, aber Frauen fürchten den Tod durch die Hand des zurückgewiesenen Mannes. Turandot ist in diesem Land der Furcht vollkommen verloren, aber zu sehen, wie Liù so bereitwillig und ohne Angst ihren Weg findet, gibt ihr Mut zu sagen, dass sie den Mann liebt – egal, wie sein Name lautet. Nur, weil eine andere Frau hervorgetreten ist und ihn dessen würdig genannt hat.
Aber Calaf wählt Turandot, trotz aller menschlicher Größe von Liù. Was fehlt ihr, was Turandot besitzt? Was ist Turandots Geheimnis?
Golda Schultz: Wer weiß schon, nach welchen Kriterien Männer ihre Wahl treffen? Manche betrachten Calaf als einen, der nur auf Geld aus ist, aber ich sehe ihn als einen Mann, der das Beste aus einer gegebenen Situation macht. Er sieht Liù nicht als gleichwertig an und daher kann er sie nicht auf eine romantische Art und Weise lieben. Er bewundert und liebt sie als Mensch, aber eben nicht in der Art, wie sie es sich wünscht. Daher denke ich, dass der Tod der einzige Ausweg für diese Bühnenfigur ist. Liùs Liebe ist rein und vollkommen und wenn sie nicht erfüllt werden kann, dann muss sie an jemanden übergehen, der sie bis zum Ende auslebt. So überträgt Liù ihre Liebe an Turandot – und indem sie das macht, findet die Liebe ihre Vervollkommnung und Erfüllung. Perfekt.
Eine Ihrer weiteren oft gesungenen Rollen ist Micaëla in "Carmen". Man kann eine gewisse Verwandtschaft der beiden ausmachen: Rein, sich zurücknehmend, in ihrer Liebe unerfüllt – und stets ein Liebling des Publikums.
Golda Schultz: All diese Eigenschaften sind bereits Interpretations-Ableitungen. Für mich ist Micaëla weit weniger tragisch als andere sie sehen – und Liù detto. Liù ist sich ihrer Situation bewusst. Sie macht sich keine Illusionen über das, was sie von Calaf zu erwarten hat: nämlich nur Güte. Aber gerade diese Illusionslosigkeit macht ihre Liebe ja so rein! Sie ist also nicht unerfüllt in dem Sinne, dass sie sich nach ihm verzehrt und schmachtet. Sie liebt in einer reinen Form – Liebe um der Liebe willen. Und weil sie liebt und keine Gegenleistung erwartet, tut sie das Richtige. Auf die Frage, warum sie macht, was sie macht, antwortet sie einfach: Weil du mich angelächelt hast. Das ist eine Antwort voller Wissen und Weisheit! Calaf hat ihre Menschlichkeit in einem flüchtigen Moment erlebt und gewürdigt. Und diese Würdigung machte Liù ihrer Wirkung bewusst und gab ihr die Handlungsfähigkeit aus Liebe. Da ist nichts Kleines oder Schüchternes. Es ist groß und voller Selbsterkenntnis und Weisheit. Und Micaëla ist eine tapfere junge Frau, die in eine Welt, die ihr unbekannt ist, hinaustritt, um das zu tun, was sie für richtig hält. Ich sehe sie als junge Frau, die ihre ersten Schritte in Liebesdingen macht und erkennt, dass der Junge aus dem Dorf, in den sie sich verliebt hat nicht derselbe ist wie der Mann, den sie in den Bergen trifft. Nach ihrer Arie sieht sie ihn, wie er wirklich ist und ihre einzige Sorge ist, dass er es nicht versäumen soll, sich von seiner Mutter zu verabschieden. Das macht sie in meinen Augen menschlich groß.
Liù ist die (kleine) Schwester von Mimì und Madama Butterfly. Sind das auch Rollen, die Sie ansteuern wollen?
Golda Schultz: Ich würde es lieben, diese hingebungsvollen Frauen zu portraitieren! Ich war immer schon fasziniert vom Gedanken der weiblichen Hingabe und ihrer Darstellung im Theater und in der Literatur. Mein Traum ist es tatsächlich, eine Rolle wie Penelope zu singen – die wahre Abbildung der weiblichen Hingabe, auch meine bevorzugte Literatur kreist um genau dieses Thema. Darüber könnte ich stundenlang sprechen… Also wenn mir jemand die Möglichkeit geben würde mich diesem Stoffgebiet zu widmen und es zu erforschen, dann würde ich es jederzeit versuchen!
Auch Pamina gehört zu Ihren Rollen. Ebenfalls eine ehrlich Liebende, eine die – zeitweilig – mit der scheinbar verlorenen gegangenen Liebe umgehen muss. Finden sich hier emotionale Verbindungen zu Liù? Wenn wir in der Familienbegrifflichkeit bleiben: eine weitere (Halb-)Schwester?
Golda Schultz: Vielleicht keine Schwester, aber jedenfalls sind sie Freundinnen, die unterschiedliche Geschichten erleben und sich über ihre Erfahrungen austauschen können. All diese Frauen sind letztendlich ein Teil von mir. In einem gewissen Ausmaß haben ihre Geschichten sich auch in meinem Leben abgespielt – und im Leben so vieler Frauen, die ich liebe und bewundere. Manche so tragisch – gebrochene und unterdrückte Herzen – andere wiederum mit einem erfüllenden Ende voller Glockengeläut und Glückschören. Aber jede dieser Geschichten ist voller Hoffnung, weil das das Herzstück jeder Frau ist. Wir erhoffen das Beste, wir warten darauf und ersehnen es.
Oliver Láng
Giacomo Puccini
Turandot
1., 5., 9. März 2020