Nicole Car als Tatjana in Eugen Onegin, Wiener Staatsoper, 2020
© Yan Bleney
Nicole Car und Étienne Dupuis

Wenn man zum falschen Zeitpunkt liebt

Nicole Car und Étienne Dupuis singen Tatjana und Onegin in Tschaikowskis Eugen Onegin

Fangen wir mit einer kurzen Charakterbeschreibung von Tatjana und Onegin an.

NICOLE CAR: Tatjana ist jung, klug, sehr naiv, in einem kleinen Ort aufgewachsen, lesewütig. Sie mag reserviert scheinen, ist aber voller Hoffnung auf Liebe und ein Leben, von dem sie denkt, dass sie es verdient.

ÉTIENNE DUPUIS: Und sie ist loyal.

NICOLE CAR: Ja!

ÉTIENNE DUPUIS: Onegin ist in vielem das Gegenteil. Er hat eine Menge Geld geerbt, ist anderen gegenüber wertend, kultiviert – und ein Einzelgänger. Nachdem er Lenski im Duell getötet hat, passiert etwas mit ihm: Er ist zwar immer noch gelangweilt, aber er kann wieder Emotionen fühlen. Etwas, was er nicht versteht und womit er nicht umgehen kann. Und dann endet die Oper!


Diese Gegensätze sind aber nicht der Grund, warum es zwischen den beiden nicht klappt. Oder sind Tatjana und Onegin einfach zu verschieden?

NICOLE CAR: Ich denke, in einer idealen Welt könnten Tatjana und Onegin ein tolles Paar sein. Aber in jedem Moment der Oper arbeitet das Timing gegen sie. Sobald Tatjana älter und klug genug ist zu wissen, was sie wirklich will, ist es einfach schon zu spät für die beiden. Und als sie noch jung und auf eine Art verletzlich ist, ist sie für Onegin nicht interessant. Die beiden haben keinen richtigen Zeitpunkt.

ÉTIENNE DUPUIS: Ich finde es spannend, wie Larina und Filipjewna über die Ehe sprechen. Es geht dabei nicht um Liebe auf den ersten Blick – und dennoch geht es um Liebe. Und als Tatjana den Fürsten Gremin heiratet, schlägt sie genau diesen Weg ein. Es ist sicher keine Leidenschaft, die sie antreibt. Vielleicht anfangs auch keine Liebe. Aber zwischen zwei Menschen kann sich Liebe entwickeln, sie können lernen, einander zu respektieren. Daher lautet meine Antwort ein bisschen anders: Ich glaube nicht, dass Onegin und Tatjana eine dauerhafte Beziehung führen können. Ihre Leidenschaft brennt zwar sehr heftig, aber sie ist jäh. Nur wenn sich aus dieser Leidenschaft Liebe entwickelte, könnte die Beziehung halten.

NICOLE CAR: Ich glaube, das Älterwerden verändert die Sicht. Ich fragte mich so oft, warum Tatjana im Finale nicht Onegin wählt? Aber dann wird man ein bisschen älter und vielleicht auch ein bisschen weiser, man versteht womöglich ein wenig mehr von der Welt und begreift, dass der tiefe Respekt und die Liebe, die zwischen Tatjana und Gremin gewachsen ist, nicht etwas ist, was sie jemals aufs Spiel setzen würde. Das zu verstehen ist der echte Schlüssel zu den Verhältnissen in der Oper. Jungverliebte denken, dass Tatjana einfach mit Onegin durchbrennen sollte. Auch Onegin erwartet, dass das passieren wird. Und ich bin mir sicher, dass sie diesbezüglich in Versuchung gerät. Doch ihre Liebe zu Gremin und die Beziehung, die sie miteinander haben, das Vertrauen und den Respekt, das alles will sie nicht aufgeben.


Steht nicht Angst hinter der Entscheidung, Gremin nicht zu verlassen? Die Angst vor der Leidenschaft? Gremin ein sicherer Ehemann, wohin der Weg mit Onegin führte, ist hingegen unklar.

NICOLE CAR: Womöglich, aber das ist mir zu vereinfacht. Ich habe mich zu lange mit der Rolle beschäftigt, um nicht zu glauben, dass es einen großen Teil von ihr gibt, der nicht nur aus Loyalität handelt. Wenn sie wirklich keine Gefühle für Gremin hätte, würde sie ihn verlassen.

ÉTIENNE DUPUIS: Das ist vielleicht der Grund, warum die Oper Eugen Onegin und nicht Tatjana Larina heißt.

NICOLE CAR: Ja, warum eigentlich?

ÉTIENNE DUPUIS: Weil es das ist, was Puschkin zu zeigen versucht hat: Nämlich, wie die Desillusionierung eines Menschen all diesen Herzschmerz verursacht. Tatjana hingegen erlebt ein Happy End.

NICOLE CAR: Ja, das stimmt. Es stellt sich aber immer die Frage: Was hätte sein können? Es gibt diesen schönen Moment im letzten Duett von Tatjana und Onegin, wo genau das aufkommt: »Das Glück war möglich...«. Aber das ist nur ein Traum, nicht das, was es wirklich gewesen wäre.

ÉTIENNE DUPUIS: Das ist ein sehr kurzer Moment, doch es ist sehr interessant, was Tschaikowski macht. Für einen einzigen Augenblick singen beide denselben Text auf dieselbe Musik. Nur zehn Sekunden, sie beginnen nicht zusammen, aber sie finden sich. Dann bricht es wieder ab.


Aber Tatjana hat ja ohne Zweifel immer noch Gefühle für ihn, sie spricht es ja auch aus.

NICOLE CAR: Ja, natürlich. Es ist wie...

ÉTIENNE DUPUIS: ... eine erste Liebe.

NICOLE CAR: Absolut. Es ist wie jede Beziehung, die man hatte. Etwas von der Liebe bleibt. Natürlich liebt sie ihn, das ist das Schwierige daran. Ja, es ist so schwer für sie, dieses »Ich will nicht, dass diese Worte aus meinem Mund kommen, aber ich muss dir sagen, dass ich dich liebe. Aber das bedeutet nicht, dass ich mit dir weggehen werde.«

ÉTIENNE DUPUIS: In der Musik hört man es auch, dass es ihr damit ernst ist. Dass sie das mit der Liebe auch so meint. Sie sagt es nicht nur, um ihn loszuwerden. Es ist definitiv Liebe zwischen den Noten.


Die klassische Frage: Liebt Onegin Tatjana am Ende wirklich? Oder versucht er, etwas zu bekommen, was er nicht haben kann? Oder die Zeit zurückzudrehen?

ÉTIENNE DUPUIS: Es könnte sein, dass er andere Gründe hat als Liebe. Aber selbst wenn es so wäre, wüsste er es nicht. Er spürt ein Gefühl und denkt sich: »Oh mein Gott, was überkommt mich da? Ich muss in sie verliebt sein.« Und er möchte sich zu hundert Prozent darauf einlassen. Onegin versucht, denselben Fehler, nämlich Tatjana nicht zu lieben, nicht zweimal zu machen. Er hat ja ohnehin ausreichend viele Fehler in seinem Leben gemacht.


Und am Anfang? Liebt Tatjana Onegin wirklich?

NICOLE CAR: Es ist ohne Zweifel Verliebtheit, Schwärmerei. Sie hat viel gelesen und kennt ihn überhaupt nicht. Also erschafft sie eine Illusion, wie er sein könnte. Wir alle kennen das, als Teenager verknallt man sich mitunter in solche Fantasiebilder.

ÉTIENNE DUPUIS: Onegin wird in eine Figur verwandelt, die sie in einem Buch gelesen hat. Ich erinnere mich, dass ich mich einst in Amélie Poulain aus Die wunderbare Welt der Amélie verliebt habe, ich war in eine fiktive Figur verknallt, der ich meine Liebe gestanden hätte, wenn ich ihr begegnet wäre. Nun ist Eugen Onegin eine Figur des 19. Jahrhunderts, ein besonderer (Literatur-)Typus des gelangweilten Dandys, der mit sich und der Welt nichts anzufangen weiß. Worin liegt der Bezug zum Heute? Ist Onegin auch ein Mensch der Gegenwart?

NICOLE CAR: Er ist absolut ein heutiger Mensch. Wir können ihn in jede Epoche oder in jedes Zeitalter versetzen.

ÉTIENNE DUPUIS: Einer der wohlhabend ist und nicht tätig werden will. So sehr nicht, dass er, wenn sich ihm eine Frau an den Hals wirft, antwortet: »Ich wäre ein schlechter Ehemann, weil ich nicht an der Beziehung arbeiten möchte. Du würdest darunter nur leiden.« Er kennt keine Verantwortung. Ich habe übrigens solche Bekannte, Menschen, die einfach keine Verantwortung übernehmen wollen. Ob sie sich davor fürchten oder ob es andere Gründe gibt, tut nichts zur Sache.

NICOLE CAR: In gewisser Weise warst du in jüngeren Jahren auch ein bisschen so, oder?

ÉTIENNE DUPUIS: Nein, da gab es einen Unterschied. Ich habe es genossen, nicht so viel Verantwortung zu haben, aber ich habe sie sehr wohl gesucht. Ich wollte zum Beispiel immer Kinder haben. Verantwortung zu übernehmen hat mir keine Angst gemacht. Aber ja, es gab einen Teil von mir, der es genossen hat, eine Zeitlang weniger Verantwortung zu übernehmen. Bis ich dich traf!

NICOLE CAR: Ich glaube, in jedem von uns steckt eine Art Tatjana oder Olga oder Lenski oder Onegin. Ich denke, deshalb ist es eine Geschichte, die die Zeit übersteht.


Dass wir etwas von Onegin lernen können, liegt jetzt auf der Hand. Aber was lernen wir von Tatjana?

NICOLE CAR: Ich glaube, die Naivität, die sie anfangs hat, ist etwas Besonderes. Heute, wo auf jeden Schritt gleich der nächste folgen muss und wir es so eilig haben, erwachsen zu werden, fehlt das oft. Und wir können lernen, den Moment zu genießen, in dem man gerade ist. Das ist etwas, was vielen von uns sehr schwerfällt. Sie hat diese Mischung aus einer alten Seele und einem jugendlichen Geist. Ich jedenfalls habe im Laufe der Jahre definitiv viel von ihr gelernt.

ÉTIENNE DUPUIS: Jeder sollte Tatjana singen! (lacht)


Und bevorzugen Sie die jüngere oder reifere Tatjana?

NICOLE CAR: Oh, da ist eine gute Frage. Die junge Tatiana gibt mir so viel Schönheit und Energie, es ist erfreulich, davon umhüllt zu werden. Auch wenn es mir gefällt, wie die spätere Tatjana mit Onegin umgeht (lacht), gewinnt wahrscheinlich die jüngere.


Eine Schlüsselstelle ist die Briefarie der Tatjana, eine der umfangreichsten Sopranarien überhaupt. Fordert Sie diese eher stimmlich oder emotional heraus?

NICOLE CAR: Sie ist so klug und gut geschrieben, dass es, wenn man sich an Tschaikowski hält, fast wie von selbst läuft. Stimmlich liegt sie gut, niemals zu lange zu hoch, zwischendurch gibt es immer auch Momente der Ruhe, wie das wunderschöne Zwischenspiel. Aber gefühlsmäßig bleibt es eine Achterbahnfahrt, Tatjana ist voller Liebe, voller Leidenschaft. Mit anderen Worten: sie ist emotional anstrengender als gesanglich.

ÉTIENNE DUPUIS: Ich würde es ja keine Arie nennen. Es ist eine ganze Szene!

Wenn Sie den Onegin darstellen: Versuchen Sie, seine besseren Seiten zu zeigen und so Verständnis für ihn zu gewinnen oder streichen Sie das Schlechte an ihm besonders hervor?

ÉTIENNE DUPUIS: Meine Persönlichkeit, die auch auf der Bühne zum Vorschein kommt, ist eher leicht, fröhlich und glücklich. Als Onegin liegt die Herausforderung darin, mir stets zu vergegenwärtigen, dass ich von allen Leuten und vom Leben total gelangweilt bin. Und dass jede Handlung, die ich setze, von Egoismus motiviert ist. Aber es gibt auch ein paar bessere Seiten seines Charakters, er hat auch Qualitäten, wir erhaschen auch einen Blick in seine Jugend. Das sind für mich die leichteren Momente und ich mag es, das auch zu zeigen.


Im tatsächlichen Leben sind Sie ein Paar. Wie gehen Sie mit der Oper in Ihrem Leben um? Sprechen Sie daheim von ihr? Oder bewusst gar nicht?

NICOLE CAR: Wir reden viel über die Oper, vor allem, wenn es um aktuelle Inszenierung geht. Darüber, wie sich eine Figur anfühlt, wie die szenische Setzung ist, wir machen einander auch Vorschläge, wie etwas funktionieren könnte.

ÉTIENNE DUPUIS: Es kommt einem oft zufällig in den Sinn. Manchmal liegen wir im Bett, sind beim Einkaufen oder gehen mit dem Hund spazieren, und dann kommt ein: »Weißt du, ich habe gerade an diese oder jene Szene gedacht«. Es passiert einfach so. Und dann geht der Alltag wieder weiter. Das Theater ist einfach ein Teil unseres Lebens!


Tschaikowskis Eugen Onegin – basierend auf Alexander Puschkins Versroman – erzählt die Geschichte einer in ihrer Bücherwelt lebenden jungen Frau, die sich in den gelangweilten Dandy Eugen Onegin verliebt. Entgegen den gesellschaftlichen Konventionen gesteht sie ihm ihre Gefühle, er weist sie jedoch kühl zurück. Später tötet er bei einem Duell seinen besten Freund. Als gebrochener Mann trifft Onegin Jahre später die inzwischen mit dem Fürsten Gremin verheiratete Tatjana wieder. Nun versucht er sie zu gewinnen, doch entscheidet sich Tatjana gegen ihn. Onegin bleibt verzweifelt zurück. An der Wiener Staatsoper ist eine Inszenierung Dmitri Tcherniakovs zu sehen, die in faszinierend hoher Auflösung ein gesellschaftliches wie privates Panoptikum entwirft. In der Premiere am 25. Oktober 2020 sang Nicole Car die Tatjana. Étienne Dupuis, der an der Wiener Staatsoper unter anderem Valentin in Faust oder Figaro im Barbier von Sevilla gestaltete, gibt hier nun erstmals den Onegin.

EUGEN ONEGIN
14. / 18. / 22. / 24. März 2023
Musikalische Leitung Tomáš Hanus
Inszenierung & Bühne Dmitri Tcherniakov
Mit u.a.: Nicole Car, Étienne Dupuis, Maria Barakova, Iván Ayón Rivas, Dimitry Ivashchenko