© Dario Acosta

Wenn Kunst das Leben verändert

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Gustav Mahlers Musik packt oftmals auch jene, die mit Klassik gar nicht so viel am Hut haben. Warum ist das so? Was macht Mahlers Klangsprache so unmittelbar anrührend?

TANJA ARIANE BAUMGARTNER Unter anderem liegt es womöglich daran, dass in seiner Musik so viel vielleicht nicht volksliedhafte, aber doch volkstümliche Melodie steckt. Wenn auch oft verfremdet. Mahler appelliert stark an das innere Gefühl, an den Instinkt.
 

Gleichzeitig erlebt man stets eine emotional unmittelbare Intensität. Man kann sich vorbehaltlos hineinstürzen.

TB Das stimmt. Mahler ist so intensiv, dass es mir manchmal fast schon zu viel scheint. Ich erinnere mich etwa an meine Jugend, als ich zwanzig war: da war ich unglaublich fasziniert von seiner Musik, konnte ihr aber mitunter beinahe nicht mehr folgen – eben, weil sie so unglaublich stark ist und stark wirkt. Mahler lässt einen ja auch nicht aus. Man entkommt seiner Musik nicht.


Es ist auch eine Musik, die alles von einem fordert.

TB Früher, noch als Geigerin, spielte ich einmal mit der Jungen Deutschen Philharmonie unter Donald Runnicles auf einer Tournee seine »Sechste«. Das war ein Rausch, ein absoluter Rausch.
 

Und wie gehen Sie heute mit diesem Rauschhaften um? So ganz vorbehaltlos dürfen Sie sich ihm auf der Bühne ja nicht ergeben, oder?

TB Nein, ganz darf man das als ausübende Künstlerin nie. Und es ist ganz generell schwer, sich auf der Bühne der emotionalen Ergriffenheit zu entziehen. Nehmen wir etwa Mahlers »Ich bin der Welt abhanden gekommen«: Wie man mit der enormen Wirkung dieses Liedes umgeht, das habe ich bis heute noch nicht gelöst: es packt mich einfach zu sehr. Natürlich kann ich das Lied singen, das gehört zur Professionalität als Sängerin. Aber dennoch merke ich jedes Mal, wie schwer es mir fällt, Haltung zu bewahren. Und beim Klagenden Lied ist es ebenso. Es ergreift mich in höchstem Maße, wobei ich nicht nur das reine Singen meine. Wir tragen durch unser Spielen und Agieren den Abend auch auf eine energetische Art. Nach jeder Aufführung des Klagenden Lieds spüre ich, wie erschöpft ich bin.
 

Mit der Erschöpfung sprechen Sie weniger die physische als die psychische Seite an?

TB Ja, ich meine die psychische Anspannung. Mit Calixto Bieito ist es immer sehr energetisch, das mag ich sehr gerne, aber es fordert einen. Dieses Klagende Lied, das ist so archaisch und behandelt Themen, die seit Urzeiten in uns Menschen stecken.
 

Und danach die Kindertotenlieder mit ihrer zutiefst schmerzhaften Tragik.

TB Das stimmt, sie sind absolut heftig. Wobei ich das Gefühl habe, dass Gustav Mahler in seiner Vertonung der Texte Friedrich Rückerts – dieser schrieb nach dem Tod zweier seiner Kinder über 400 Kindertoten-Gedichte, die sich mit dem grausamen Verlust auseinandersetzen – etwas Tröstliches beigibt. Sonst könnte man, glaube ich, sie gar nicht ertragen.
 

Also es gibt am Ende unseres Mahler-Projekts so etwas wie einen Hoffnungsschimmer?

TB Es passiert viel diesem Abend, und dennoch habe ich das Gefühl, dass etwas Tröstendes im Raum steht, wenn Florian Boesch die letzten Phrasen singt. Vielleicht in der Hoffnung auf ein Jenseits, auf ein Wiedersehen oder auch ganz universell. Jedenfalls empfinde ich es so.
 

Beim Abend Von der Liebe Tod geht es in Calixto Bieitos Sicht auch um eine technische, digitale Dystopie. Können wir das so verstehen, dass die Kunst eine Antwort auf aktuelle Fragen einer Bedrohung durch das Künstliche, auf die Gefahren der Künstlichen Intelligenz gibt?

TB Kunst gibt für mich ohnedies Antworten auf ganz vieles, was uns Menschen wichtig ist. Wir können so Themen, die uns wirklich bewegen, auf eine andere Art und auf einer ganz hohen Ebene verarbeiten. Das ist übrigens einer der Gründe, warum ich an die Kunst glaube! Und ich denke, dass Calixto Bieito, wie alle guten Regisseure, mit seinen Themen der Zeit voraus ist. Dieser Kabelbaum, wie er uns beherrscht, wie er uns etwas spendet, was wahrscheinlich nichts Gutes ist: das empfinde ich als sehr, sehr zeitgemäß, ja modern.


Inwiefern versuchen Sie die Bilder, die man auf der Bühne sieht, ganz zu entschlüsseln? Oder wollen Sie bewusst nicht alles bis ins Letzte analysieren und gewähren sich so selbst eine Grauzone?

TB Ich möchte natürlich grundsätzlich möglichst viel verstehen. Dabei gebe ich allerdings zu bedenken, dass ich in der Bühnen-Darstellung den Moment live erlebe. Und in dieser Situation darf ich in meiner Rolle gar nicht zu souverän wirken, keine sein, die alles versteht. Denn an diesem Mahler-Abends erlebt man auf der Bühne Menschen, die sich unsicher durch eine Kabelwelt bewegen sollen. Was übrigens in der konkreten Bühnensituation auch so ist: Denn jedes Mal liegen die Kabel anders, jedes Mal haben wir ein unterschiedliches Terrain zu erkunden. Dadurch werden in uns immer wieder neue Gefühlswelten erweckt – und durch dieses Neue bleibt der Abend lebendig.
 

Vor ein paar Tagen bin ich auf ein Zitat von Bernhard von Clairvaux gestoßen, in dem er sinngemäß anmerkt, dass aus einer (emotionalen) Ergriffenheit Erkenntnis und Weisheit folgen können. Das passt zu unserem Mahler-Abend?

TB Ja, ich finde, dass man nicht immer alles sofort verstehen muss. Das Unterbewusstsein arbeitet ja auch mit. Und vielleicht kommt eine Erkenntnis später. Was ich immer schön finde, ist, dass solche Abende eine große Projektionsfläche für Emotionen bieten, ohne dadurch beliebig zu werden. Jeder oder jede wird mit seiner oder ihrer Erfahrung etwas anderes für sich finden. Ebenso wie, um zu den Sängern zu kommen, eine tolle Singstimme so viele Obertöne hat, dass man ganz viele Emotionen hineinlesen und heraushören kann.
 

Wenn wir uns nun dem Publikum zuwenden: Was möchten Sie den Zuschauerinnen und Zuschauern mitgeben? Was kann man lernen?

TB Wie gesagt, jede und jeder nimmt das, was ihn oder sie anspricht. Was mir persönlich im Klagenden Lied besonders nahegeht, ist das Thema Neid und Missgunst. Oder, um es einfach zu benennen: die Macht. Die Handlung zeichnet ein sehr unmenschliches Bild, eine Kehrtwendung, eine Annäherung an das Menschliche, findet erst in den Kindertotenliedern statt. Wobei es schon traurig ist, dass Leid kommen muss, um uns wieder menschlicher zu machen. Vielleicht könnten wir uns in diesem Punkt ja ändern...
 

In dem berühmten Rilke-Gedicht Archaischer Torso Apollos, im Angesicht eines alles überstrahlenden Kunstwerks, fällt der bannende letzte Satz: »Du musst dein Leben ändern.« Also: Die Wahrhaftigkeit eines Kunstwerks tritt so nahe an einen heran, dass ein alltägliches Weiterleben wie bisher nicht mehr möglich scheint. Hatten Sie in Bezug auf die Wahrheitswirkung der Kunst auch schon das Gefühl: Jetzt muss alles anders werden?

TB Ich möchte die Frage umgekehrt beantworten: Eine meiner langjährigen Lehrerinnen war Alexandrina Milcheva, ein ehemaliges Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper. Sie sagte mir immer: »Tanja, dein Ton, dein Klang muss schön sein, rühre durch Schönheit!« Ich persönlich würde einen Schritt weitergehen und meinen: Rühre durch Wahrheit! Die Wahrhaftigkeit im Klang, in der Stimme, im Kunstwerk oder in der Interpretation ist mir immer enorm wichtig. Genau so möchte ich meine Zuhörerinnen und Zuhörer berühren.
 

Kunst kann also lebensverändern sein?

TB Ich finde schon. Ja, absolut.

VON DER LIEBE TOD
Das klagende Lied. Kindertotenlieder.
6./8./11./16.Mai2023
Musikalische Leitung Lorenzo Viotti
Inszenierung Calixto Bieito
Bühne Rebecca Ringst
Kostüme Ingo Krügler
Licht Michael Bauer
Mit u.a. Vera-Lotte Boecker – Ileana Tonca / Tanja Ariane Baumgartner / Daniel Jenz / Florian Boesch


Das Gespräch führte Oliver Láng