Wenn endlich der Hass überwunden wird

KS Leo Nucci, Ehrenmitglied der Wiener Staatsoper und Gestalter zahlreicher einzigartiger Opern-Charaktere, singt im Jänner eine seiner liebsten Partien: den Simon Boccanegra. Zu dieser Partie nimmt der Sänger persönlich Stellung.

… Erstmals stand ich im Jahr 1984 als Simon Boccanegra auf der Bühne – doch kannte ich die Oper bereits aus einem anderen Blickwinkel, aus jenem des Bösewichts Paolo, den ich unter Claudio Abbado bereits zuvor gestaltet hatte; und Abbado stand auch am Pult, als ich hier 1990 an der Staatsoper erstmals einen Boccanegra sang – es handelte sich dabei um die letzte Aufführungsserie in der berühmten Inszenierung von Giorgio Strehler.

Man sagt dieser Oper ja oftmals nach, dass sie beim Publikum weniger beliebt ist als andere Werke von Verdi: Es handelt sich dabei aber of mals eher um eine größere oder geringere Zuneigung seitens der Intendanten, denn wenn Simon Boccanegra gespielt wird, ist das Publikum eigentlich immer hingerissen. So gestaltete ich diese Titelpartie vor kurzem an der Scala, und die Zuhörer liebten das Werk einfach. Natürlich scheint es manchem Intendanten einfacher und vor allem sicherer, das „typische“ italienische Repertoire zu spielen, wie La traviata, La Bohème, weil sie sich da des Publikums sicher sind. Aber wir als Kulturschaffende haben durchaus die Aufgabe, das Publikum auch auf den Geschmack anderer Opern zu bringen und sie auch zu anderen Werken, wie etwa Simon Boccanegra zu verführen…

Mich fasziniert immer wieder aufs Neue die Modernität und Aktualität von Verdis Simon Boccanegra – im Vergleich etwa zu Ernani oder zum Trovatore. Und das heute mehr denn je! Eine Situation, vergleichbar mit Luisa Miller oder I due Foscari. So heißt es im Libretto von Simon Boccanegra nach Petrarca „Adria e Liguria hanno patria commune“, also das adriatische und ligurische Meer haben dasselbe Vaterland – und genau dieses Thema ist ja auch eine Streitfrage in der zeitgenössischen italienischen Politik … Oder der Prolog: Es erfolgt ein Auftritt zweier Männer, Paolo und Pietro, die wie Gewerkschafter erscheinen. Sie zetteln im Namen des Volkes einen Aufstand an, um Simon Boccanegra auf den Thron zu hieven. Pietro fragt Paolo dabei: Welchen Vorteil habe ich dabei, wenn ich so handle? Es geht also um „oro, possanza, onore“, also „Gold, Macht, Ehre“ – das ist wirklich ganz aktuell! Denn wie viele Politiker heute handeln und nehmen alles in Kauf, auch auf Kosten des Volkes übrigens, wegen oder für Gold, Macht, Ehre?

Das dramatische Potenzial dieser Oper entspringt aber vor allem dem mittleren Wort dieser Trias: Macht. Es ist eine Geschichte der Macht, die man zu sehen und zu hören bekommt. Schließlich ist die Titelfigur Jahrzehnte lang an der Macht, es geht um das Drama eines Herrschers, der weiß, dass er nur durch Menschen an die Spitze gekommen ist, die selber gerne herrschen würden. Und dennoch endet diese Oper versöhnlich, denn sowohl Fiesco als auch Simone gestehen am Ende ihre Schuld ein, und Simone verzichtet um des Friedens willen auf die Macht – sogar zugunsten seines Feindes! Sein Sterben sieht er im Zusammenhang mit einer Möglichmachung des Friedens; und das selbst in einer Situation, in der er von jenem Mann vergiftet wird, der ihn ursprünglich an die Macht gebracht hat. Man kann also durchaus sagen, dass es in dieser Oper um etwas Besonderes geht, um eine politische Vision, die Verdi seinem Publikum mitteilen wollte.

Dieser Zwiespalt von Hass und Vergebung, von Zorn und Hingabe wird in der Oper sogar direkt von der Titelfigur angesprochen. Ein Detail: Boccanegra spricht etwa von Ligurien, wo der „ulivo“ wächst, also der Olivenbaum, der Hass aber – der Olivenbaum ist bis heute das Symbol des Friedens – weiterbesteht. Simon Boccanegra erzählt zusammengefasst eine Geschichte der Macht, sowie – besser – noch mehr: eine Geschichte des Bruder-hasses, der Rache, und eine Geschichte der Überwindung dieser dunklen Kräfte, der Überwindung des Hasses.

Aber auch Ehe und Lebensgemeinschaft sind ein Topos dieser Oper, kein Wunder, hat dieses Thema doch den Komponisten Giuseppe Verdi – ich denke da an seine „wilde“ Ehe mit Giuseppina Strepponi – sehr beschäftigt. In der Oper jedenfalls sind Maria Fiesco und Simon Boccanegra ineinander verliebt. Diese Liebe ist allerdings gegen den Willen Marias Vaters, Jacopo Fiesco, der sogar in Kauf nimmt, dass seine Tochter im eigenen Haus stirbt, nur damit sie ihren Geliebten nicht mehr sehen kann. Von dem sie übrigens sogar eine Tochter hat – Amelia. Dieses Liebesthema, wie auch die gesamte Geschichte rund um die Kindesentführung, das sind Aspekte aus der Romantik, die Verdi und seine Librettisten Francesco Maria Piave (1. Fassung) und Arrigo Boito (2. Fassung) geschickt in die Handlung verwoben haben. Ebenso entspricht es der Dramaturgie der Romantik, dass Simon Boccanegra im Vorspiel der Oper nicht von seinem Widersacher Jacopo Fiesco erfährt, dass dessen Tochter und Simones Geliebte Maria gestorben ist, sondern er es selbst grausam entdecken muss: er öffnet das Grab und entdeckt dort den Leichnam. Das dient allerdings nicht nur als Effekt, sondern Verdi wollte damit die Grausamkeit des Vaters, also Jacopo Fiescos, zeigen. Im Sinne der Romantik ist weiters, dass Boccanegra das Schicksal seiner Tochter nicht kennt, sondern 20 Jahre lang im Ungewissen bleibt.

Abgesehen von diesen romantischen Elementen geht Verdi mit dieser Oper neue Wege der Dramaturgie, besonders in der genannten zweiten Fassung des Werkes, die 1882 zur erstmaligen Aufführung kam. Er fügte in dieser Version die große „Scena del Consiglio“ ein, und betont damit die am Anfang erwähnte politische Dimension dieser Oper. Vor allem aber ist er ein Neuerer in musikalischer Hinsicht. Es gibt, bis auf die Arie des Tenors, keine Arien in dem herkömmlichen Sinne. Die große Szene des Basses mit dem großen Rezitativ und einer Coda ist keine Arie, sondern sie schließt unmittelbar an die folgende Szene an – eigentlich darf das Publikum an dieser Stelle nicht applaudieren. Dazu kommen lautmalerische Momente, sofort bei der Eröffnung der Oper zum Beispiel: Verdi hat hier den ruhigen Wellenschlag des Ozeans komponiert. Man darf nicht vergessen, dass er von November bis März in Genua, also in einer Hafenstadt lebte und nur von März bis November auf seinem Landsitz in Sant’Agata. Verdi war also das Meer vertraut, und es liegt nahe, dass er es in die Oper, wo es doch um den früheren Piraten Boccanegra geht, eingebracht hat. Oder ein anderes Beispiel: In dem Augenblick, in dem Simone Boccanegra sagt: „ardono le fauci“ und das vergiftete Wasser ausgießt, hört man im Orchester das Fließen des Wassers. Verdi wollte übrigens für Simon Boccanegra kein großes Orchester, sondern vielmehr einen Klangkörper, der eher im Hintergrund steht und eben „ausmalend“, kolorierend agiert. Man darf übrigens nicht vergessen, dass Verdi in dieser Zeit mit der Musikkritik und mit Wagners Konzeption des Kunstwerks in Konflikt war …

Die erste Fassung der Oper entstand zwar relativ knapp nach der berühmten trilogia popolare, also Rigoletto, La traviata, Il trovatore, doch sehe ich persönlich eigentlich keine so starke Verbindung dieser drei Werke zu Boccanegra. Eventuell kann man Jacopo Fiesco mit Giorgio Germont aus Traviata in Verbindung bringen, aber zwischen Trovatore und Simon Boccanegra zum Beispiel sehe ich überhaupt keine echte Verbindung. Ich liebe den Trovatore natürlich, aber es steht dann doch das theatrale Moment sehr im Vordergrund. Letztlich auch bei La traviata. Simon Boccanegra hingegen sehe ich viel eher mit Don Carlo auf einer Linie, besonders, was die Dramaturgie der Oper betrifft. Übrigens auch Macbeth, in Bezug auf das Spiel mit der Macht.

In puncto Gesangstechnik gibt es für die Titelfigur eine sehr schwere Stelle, das ist das Duett mit Amelia „Figlia! … a tal nome io palpito“. Heikel ist aber auch die Interpretation des Wortes: Verdi schrieb Musik zum Text und nicht umgekehrt.

Eine echte Herausforderung ist die richtige Interpretation der Titelfigur. Denn zwischen dem Prolog und dem ersten Akt vergehen mehr als 20 Jahre, und es ist wichtig, die Veränderung zu zeigen, die an ihm geschehen ist. Schließlich leidet der Mann an einem tiefen Schmerz, denn er hat nicht nur seine Geliebte verloren, sondern ist seit Jahrzehnten auch auf der Suche nach seiner Tochter. Dieses Schicksal ist einfach großes Theater, und diese Gefühle muss man als Sänger fühlen und muss sie interpretieren. Bedeutsam scheint mir in diesem Zusammenhang auch, dass Boccanegra, bis auf wenige Stellen, vorwiegend im Piano singt.

Zuletzt: Als schönste Momente in dieser an sich immer schönen Oper empfinde ich etwa den Augenblick, in dem Boccanegra erkennt, dass er seine verloren geglaubte Tochter Amelia vor sich hat. Giuseppe Verdi notierte hier die Musik im 6/8-Takt – das machte er übrigens immer, wenn er von großer Liebe singen ließ …

Leo Nucci


Verdis Simon Boccanegra ist am 21., 25., 29.  Jänner und am 1. Februar 2015 in der Wiener Staatsoper zu sehen. KS Leo Nucci verkörpert die Titelpartie, KS Ferruccio Furlanetto den Fiesco. Barbara Frittoli singt die Amelia, Alfred Kim den Gabriele Adorno, Marco Caria ist als Paolo zu erleben. Es dirigiert Philippe Auguin.