© Christian Kleiner
Alexander Soddy

Wenn das Drama zum Leben erwacht

Der aus England stammende Alexander Soddy gehört mittlerweile zu den weltweit nachgefragten Dirigenten, der Partituren in selten gehörter Transparenz zum Erklingen bringt und zugleich für musikalische Höchstspannung sorgt. An der Wiener Staatsoper war er seit seinem Debüt im Jahr 2018 fast jede Saison zu Gast. In der aktuellen Spielzeit leitet er 25 Vorstellungen bzw. sechs unterschiedliche Werke. Mit Alexander Raskatovs Animal Farm dirigiert er zudem seine erste Premiere im Haus am Ring. Während der Probenzeit von Animal Farm führte Alexander Soddy mit Andreas Láng das folgende Gespräch.

Der besondere Reiz, das Werk eines lebenden Komponisten aufzuführen, liegt auf der Hand: Man kann bei der Entwicklung der Interpretation jederzeit Rücksprache mit dem Schöpfer des Werkes halten. Wann fing Ihr künstlerischer Austausch mit Alexander Raskatov?

Die doch zahlreichen, vielstündigen Gespräche, bei der wir gemeinsam die Partitur gelesen und analysiert haben, begannen sehr früh, bereits im Umfeld der von einem Kollegen geleiteten Uraufführungsserie vor einem Jahr in Amsterdam. Ich hatte Fragen, Anregungen, Vorschläge – schließlich ist die Interpretation eines Musikwerkes ein kreativer, lebendiger Prozess, eine bloße Kopie der Amsterdamer Vorstellungen wäre mir zu wenig gewesen. Und Raskatov ist sehr offen und interessiert in diese Diskussion eingestiegen und hat so manches aufgenommen, sodass schließlich eine Art Wiener Fassung von Animal Farm entstanden ist. Das Gros der Änderungen betraf weniger strukturelle Aspekte, sondern solche des Ausdrucks, also der interpretatorischen Herangehensweise.  Aber die eine oder andere Generalpause, Tempomodifikationen, sowie einige winzige Striche, die zur Fokussierung der Handlung beitragen, sind auch dabei. Dazu kommt noch der doch nicht unwesentliche Aspekt, dass in Amsterdam Gesangsstimmen elektronisch verstärkt wurden, was an der Wiener Staatsoper selbstverständlich nicht der Fall sein wird.
 

Alexander Raskatov betont, wie wichtig für ihn seine Auseinandersetzung mit früheren Komponistengrößen und der russischen Folklore war. Im Falle von Animal Farm fallen einem tatsächlich gelegentlich Ähnlichkeiten mit Schostakowitsch auf…

… oder beispielsweise mit Prokofiew. Wie schon Richard Strauss haben heute praktisch alle bedeutenden zeitgenössischen Komponisten ein geradezu enzyklopädisches Wissen was frühere Stile und musikalische Sprachen, Einflüsse und Zusammenhänge betrifft. Dieses Wissen ist Teil des Handwerks und somit ein Werkzeug beim schöpferischen Prozess. Weil Sie Schostakowitsch erwähnten: zwischen seiner Lady Macbeth von Mzensk und Animal Farm gibt es ganz bewusste Parallelen, wenn es um Ironie, gesellschaftliche Polemik und politische Satire geht. Das sind atmosphärische Zitate, die von Raskatov hier insofern eingesetzt wurden, als es sich bei Animal Farm um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, der sowjetischen Diktatur, und in Folge mit der Entstehung von Diktaturen im Allgemeinen handelt. Dieses Wissen um andere Stile, diese Bereitschaft, sich inspirieren zu lassen hat nichts mit einem oberflächlichen Eklektizismus zu tun. Ganz im Gegenteil. Es ist ungemein aufregend, wie gerade Raskatov mit diesen Einflüssen spielt, sie einsetzt und auf geniale Weise in seine eigene Musiksprache übersetzt.
 

Die Größe und Vielfältigkeit des Orchesterapparats von Animal Farm ist an sich schon beeindruckend.

Insbesondere der Reichtum des Schlagwerks ist unglaublich! Ich muss zugeben, dass ich hier auf ganz aufregende Instrumente gestoßen bin, von denen ich zuvor noch nie gehört hatte. Ein Waterphone zum Beispiel. Schaut aus, wie ein kleines sonderbares, mit Wasser angefülltes Möbelstück, das mit einem Kontrabassbogen gestrichen wird und erzeugt einen aufregend-sphärischen Klang. Oder die Cuíca, eine brasilianische Reibetrommel. Mein Klanghorizont hat sich – obwohl ich an sich viel Erfahrung mit zeitgenössischer Musik besitze – durch Animal Farm erfreulich erweitert. Vom Schlagwerk abgesehen gibt es noch Klavier und Celesta, E-Gitarre, Bassgitarre, Saxophon, eine Petite trompette, also eine kleine Trompete, die vom ersten Trompeter zusätzlich gespielt wird. Und dann noch die klassische Orchesterbesetzung, wobei viele der Bläser mehrere Instrumente übernehmen – also mehr als genug zu tun haben.
 

Rein vom räumlichen her gesehen, ist die Größe des Orchesters aber eine Herausforderung für jedes Opernhaus.

In Amsterdam hat man sogar einen nicht gerade kleinen Teil des Parketts abgetrennt und dem Orchestergraben zugeschlagen. Das wird in der Wiener Staatsoper natürlich nicht geschehen. Doch auch hier reicht der Platz nicht ganz aus, obwohl sogar das gewaltige Elektra-Orchester untergebracht werden kann. Aber wir haben eine gute Lösung gefunden: Einige schwere Instrumente des Schlagwerks die rhythmisch weniger heikle Aufgaben haben, wie etwa die großen Plattengongs, werden im Orgelsaal im 6. Stock der Staatsoper untergebracht. Die Musiker sind durch Monitore akustisch und visuell mit mir verbunden und was sie spielen, wird direkt in den Zuschauerraum übertragen. Genauso wird übrigens im Rheingold mit den Ambossen verfahren – es ist also keine ungewöhnliche oder für das Haus neue Situation.
 

Apropos heikle rhythmische Aufgaben: Auffallend an der Animal Farm-Partitur ist die sehr markante Rhythmik.

Gerade darum ist sie fast schon eine eigene Klangfarbe, zumal sie die Handelnden, also die Tiere und ihre Typik des Sprechens respektive Singens widerspiegelt. Auf den ersten Blick sicher sehr herausfordernd, nicht zuletzt die zahlreichen gegenrhythmischen Passagen, in denen zum Beispiel in einem 2/4-Takt Vierteltriolen und Quintolen aufeinandertreffen. Aber alles in allem wirkt die rhythmische Struktur logisch, fassbar, man kann ihr als Publikum leicht folgen.
 

Inwieweit sind einzelne Instrumente und Singstimmen aufeinander bezogen? Welche Funktion übt das Orchester aus, wie wird es von Raskatov eingesetzt?

In dieser Partitur ist alles aufeinander bezogen. Nichts wirkt abstrakt oder zufällig. Jeder Ton der gesungen wird, hat eine wichtige Funktion in der gerade aktuellen harmonischen Struktur und umgekehrt bildet das Orchester stets eine Komponente des sängerischen Gestaltens. Immer wieder doppelt ein Instrument oder eine Instrumentengruppe die rhythmische und/oder harmonische Struktur der Gesangslinie – das Orchester rollt den Sängerinnen und Sängern auf diese Weise einen schönen Teppich aus, auf dem sie gestalten können.
 

Die Oper weist sehr viele unterschiedliche Rollen auf – insgesamt 21…

… und Raskatov gelingt es, jedem dieser Charaktere eine eigene musikalische Individualität zu geben. Manche sind sehr extrem im Ausdruck, wie Benjamin der Esel, der regelmäßig Tonsprünge zu meistern hat, die dem I-a des Eselsrufs entsprechen, der Rabe Blacky oder das Pferd Mollie, das sängerisch abenteuerliche stratosphärische Höhen erklimmen muss. Das Schwein Napoleon weist hingegen eine ganz »normale« Stimmgestaltung auf – inklusive einer ironisch gemeinten Arie. Nicht von ungefähr: Ist das doch die Figur, die im Laufe der Handlung am meisten vermenschlicht. Aber allen ist eines gemeinsam: Jede und jeder verlässt für einige Momente die jeweilige musikalische Handschrift und taucht in lyrische Momente ein, die Oasen der Schönheit gleichen.
 

Und dann gibt es noch den Chor – was ist seine Funktion?

Er ist überaus präsent und versinnbildlicht die einfache, manipulierbare, passive Masse, die die Situation nicht durchschaut, sich gerne führen lässt und überhaupt erst ermöglicht, dass die Schweine unbegrenzte Machtfülle erwerben.
 

Aber er ist nicht zu vergleichen mit dem griechischen Chor der Antike?

Nein, weil er keinerlei objektive Perspektive besitzt, um den Handlungsverlauf reflektierend zu kommentieren. Der Chor in Animal Farm ist das hilflose Opfer und Widerhall einer bedenklichen Entwicklung.
 

Die Partitur ist in ihrer Komplexität ohne Zweifel nicht nur für die Sänger, den Chor und das Orchester eine Herausforderung, sondern auch für einen Dirigenten. Wo liegt für Sie die größte Schwierigkeit?

Da der musikalische Fluss kaum jemals länger als sieben oder acht Takte gleich bleibt, ist die Organisation essenziell. Die zahllosen anspruchsvollen Übergänge können während der Vorstellung nicht im Moment spontan entschieden werden. Jeder Abschnitt bedarf einer eigenen Lösung, die festgelegt und in den Proben gut studiert sein will. Schließlich muss alles so in Fleisch und Blut übergehen, dass ich bei der Aufführung loslassen kann, um mich auf das Eigentliche zu konzentrieren: Auf das Drama und die Intensität, die es zum Leben erwecken soll. Denn großartig an diesem Werk ist unter anderem Raskatovs Meisterschaft, diese Geschichte durch seine Musik zu erzählen, inklusive einer klugen Schilderung des vielgestaltigen Beziehungsgeflechtes der Agierenden. Raskatov gelingt es, die warnende Botschaft George Orwells auf perfekte Weise zu transportieren und im Medium Theater aufgehen zu lassen. Und das beglückt mich als Brite, der mit dem Werk Orwells aufgewachsen ist und diesen Autor für einen der bedeutendsten englischen Schriftsteller hält, ungemein.