Wegweiser zum Drama
An der Wiener Staatsoper hat Dirigent Myung-Whun Chung bislang Verdis Simon Boccanegra geleitet (Mai, Juni 2011). Nun kehrt er im Dezember mit gleich zwei weiteren Verdi-Opern zurück: Mit La traviata und der Rigoletto-Neuproduktion. In dem nachfolgenden Interview, das am Beginn der Rigoletto-Probenzeit Mitte November entstand, sprach er u.a. über das Mann-hafte in Rigoletto, das textlose Kommunizieren und über zeitlos gültige musikalische Formen.
Verdi hat einmal den Satz formuliert, dass er als Fachmann Rigoletto den Vorzug geben würde und als Laie der Traviata. können sie diese Antwort nachvollziehen?
Myung-Whun Chung: Wer weiß, ob Verdi diesen Satz wirklich in dieser Form gesagt hat. Sicher ist aber, dass ihm Rigolettosehr am Herzen gelegen ist und er mit der Zensur selbstbewusst um diese Oper gerungen hat. Aber jetzt konkret zum inhaltlichen des Ausspruches: Ich persönlich würde - nicht als Laie, sondern als Musiker – Traviata als das feinere der beiden Werke bezeichnen. Oder anders gesagt: Rigoletto und Traviata, diese beiden sehr kontrastreichen Stücke, könnte man mitder Zuordnungen Mann – Frau versehen. Traviata ist offensichtlich die „Frau“, was Farben, Struktur, Kultiviertheit betrifft, Rigoletto der „Mann“, hinsichtlich der sehr dunklen, brutalen Atmosphäre, dieser finsteren Geschichte.
Gibt es ein oder mehrere Aspekte, die sich in allen Verdi-Opern, von der allerersten bis zum Falstaff wie ein roter Faden durchziehen?
Myung-Whun Chung: Ja, da sehe ich gleich mehrere Dinge. Zunächst einmal die verdische Humanität, die all seine Opern durchzieht, dann die emotionale Wahrhaftigkeit seiner Bühnenfiguren, ganz gleich ob es sich um Hauptrollen handelt oder um kleine Nebenpartien, die jeden, ob Interpret oder Zuschauer, gleichermaßen berührt und nicht mehr loslässt. Beim Hören der verdischen Musik kann man sich vollständig auf seine eigenen Empfindungen verlassen, man erspürt das Wesentliche und muss ihnen nicht intellektuell nachforschen, wie dies bei Werken einiger späterer Komponisten der Fall ist. Ich persönlich schätze diese Form der Kommunikation, bei der vor und nach dem Denkprozess das durch die Musik bedingte intuitive Erspüren steht. Dieser Punkt ist einer der größten Vorzüge Giuseppe Verdis. Dazu kommt, bei den späteren Werken häufiger, bei den früheren etwas weniger – aber dennoch immer erkennbar – ein wiederholtes Aufblicken zum Himmel, also zu einer Sphäre, in der der einzige wirkliche Sinn für das beschwerliche Leben erhofft wird.
Mit anderen Worten: Die Charaktere – etwa im Rigoletto – sind auch erfassbar, wenn man den Text nicht versteht?
Myung-Whun Chung: Meines Erachtens nach: ja. Man fühlt exakt und sehr klar, worum es in der Situation geht, wie es um eine Person seelisch steht. Und je älter Verdi wurde, je weiter er sich entwickelt hat, desto intensiver verstand er sich auf diese Form der rein musikalischen Kommunikation, die vor allem auf der harmonischen und rhythmischen Struktur basiert. Diese harmonischen und rhythmischen Bausteine fungieren gleichsam als eine Art Wegweiser, als Wegweiser in das Innere des jeweiligen Dramas.
Hat Verdi im Vergleich zu seinen früheren Opern in der Rigoletto-Partitur etwas Neues gebracht?
Myung-Whun Chung: Ich weiß nicht, ob es hier etwas wirklich Neues gibt. Einen vergleichbaren Sprung wie jenen, den Verdi von der Aida zum Otello gemacht hat, den gibt es bei Rigoletto nicht. Aber es ist einfach alles stärker und besser als in den Werken davor. Im Gegensatz zu manchen früheren Opern, bei denen stellenweise gewisse Schwächen auszumachen sind, war Verdi beim Rigoletto am Gipfelpunkt seiner schöpferischen Potenz.
Im Zusammenhang mit Rigoletto und seinen nachfolgenden Opern wird Verdi oft als großer Klangdramaturg apostrophiert …
Myung-Whun Chung: Natürlich wird er das! Man muss sich nur einmal den Beginn von Rigoletto und Traviata ansehen: Bereits in den ersten Takten wird auf vollkommen unterschiedliche Weise ein ganz spezifisches klangliches Gemälde vor dem Zuschauer ausgebreitet, indem atmosphärisch bereits die gesamte jeweilige Handlung als Zusammenschau eingefangen wird. In den ersten Traviata-Takten hört man förmlich die physische Fragilität der Titelfigur, in den ersten Rigoletto-Takten das Düstere, Fluchbeladene, Drohende.
Verdi wird gelegentlich für seine Um-ta-ta, um-ta-ta Begleitungen kritisiert …
Myung-Whun Chung: In den deutschsprachigen Ländern nehmen Wagner und Strauss einen sehr großen Teil des Repertoires ein. Die Werke dieser beiden werden oft als Kontrast zu den Opern südlicherer Komponisten empfunden, und in manchen Details handelt es sich tatsächlich um zwei gegensätzliche Welten. Aber beide Welten haben gleichermaßen ihre Gültigkeit. Ich persönlich liebe beispielsweise den Walzer. Und wie sieht der Grundrhythmus des Walter aus? Um-ta-ta,um-ta-ta, um-ta-ta. Der springende Punkt ist: es gibt praktisch unendlich viele Möglichkeiten dieses Um-ta-ta zu spielen. Und um dieses Wie, geht es auch bei den verdischen um-ta-ta-Begleitungen. Es gibt in der Musik einfach bestimmte, zeitlose Grundformen ohne die Musik gar nicht existieren kann. Es ist somit geradezu lächerlich diese zu kritisieren.
Gibt es für Sie eine Schlüsselstelle, eine sogenannte „liebste Stelle“ im Rigoletto?
Myung-Whun Chung: Ich denke, also wenn ich wählen müsste, so wäre es die gesamte Rigoletto-Szene im zweiten Akt. Dieser „La rà, la rà“- Auftritt, danach der Umschwung des fast Animalisch-Entschlossenen in das flehentliche Bitten – das ist in einer Weise geschrieben, wie es nur das höchste Genie vermag.
Das Gespräch führte Andreas Láng