© Adam Fischer

Was Musik mit einem macht

Gibt es eigentlich so etwas wie den typischen Dirigententraum, oder: Alptraum? Etwa: Man tritt auf und hat die Noten vergessen. Oder an sich einen wiederkehrenden Berufstraum?

Also, früher habe ich manchmal geträumt, dass ich noch in der Garderobe sitze und die Vorstellung beginnt plötzlich ohne mich. Weil ich nicht im Orchestergraben bin, übernimmt der Konzertmeister und ich höre über den Lautsprecher die Musik. Fragen Sie mich nicht, was dieser Traum bedeuten soll, ich weiß es nicht… Übrigens ist das schon passiert, wenn auch zum Glück nicht mir. In Kopenhagen bei irgendeiner Vorstellung, da hat der Dirigent verschlafen und man musste anfangen. Bis er endlich am Pult stand, war man schon bei der zweiten Hälfte des ersten Aktes. Das ist also gar nicht so abwegig. Aber in meinem Fall war’s Gott sei Dank immer nur ein Traum.

Bleiben wir in der Traumwelt. Wenn Sie eine Oper dirigieren: Ist das so etwas wie das Eintreten in eine andere Dimension? In dem Sinne, dass Sie fühlen: Draußen Realität, aber nun bin ich in der Nozze di Figaro-Welt oder der Così fan tutte-Welt. Eben fast wie ein Traum?

Ja, das ist ganz klar. Ich fange an und tauche in die Oper ein. Und in die Figuren. Soll ich an dieser Stelle erzählen, dass ich mich früher in Nozze di Figaro mit Cherubino identifiziert habe, heute eher mit Don Alfonso aus Così fan tutte? (lacht) Sie merken, die Zeit ändert manches und zweifellos sieht man die Werke im Laufe der Jahre aus anderen Perspektiven. Wo immer ich aber gerade stehe: Immer fühle ich mit den Darstellerinnen und Darstellern mit. Die Emotionen, die ausgedrückt werden, die Traurigkeit der Gräfin oder die Wut des Grafen in Nozze di Figaro: am Dirigentenpult erlebe auch ich das alles.

Und versteht man dann die echte Welt besser? Wenn Sie die Traurigkeit der Gräfin fühlen, begreifen Sie eine reale Trauer in der Welt auch tiefer?

Auf alle Fälle ist es in Bezug auf die eigene Befindlichkeit so. Denn die Kunst ist dazu da, Gefühle zu beschreiben. Eine gute Aufführung bedeutet, dass jemand im Zuschauerraum oder auf der Bühne die eigenen Emotionen entdeckt. Also: »Ah, diese Figur ist traurig, und ja, gestern, gestern ging es mir genauso!« Man erkennt sich selbst. Genau darauf konzentriere ich mich, auf die Emotionen, die entstehen und vermittelt werden. Und noch ein Nachtrag zur vorherigen Frage, zum Eintauchen in die Welt der Musik und der Oper: Es ist ja fast ein Luxus, wenn ich das als Dirigent machen kann. Denn eigentlich ist es ein Kunstfehler, wenn man als Ausführender der Musik zu sehr nachgibt. Im Grunde sollte der Kopf nämlich klar bleiben. Wie bei einem Arzt, der operiert. Der darf ja auch keine Emotionen haben in Bezug auf das, was er gerade tut. Wobei: In dem Augenblick, in dem etwas Unvorhergesehenes im Theater passiert, kühlt mein Kopf sofort wieder ab. Und es ist klare Konzentration angesagt: Achtung, die Oboe muss jetzt früher einsetzen und ich muss auf der Bühne auf dieses oder jenes achten…

Wer ist Mozart für Sie? Ein Kollege, ein Freund, ein Vorbild, ein Genie, das kaum zu begreifen ist?

Er füllt mein Leben aus. Ich habe mit zwölf Jahren in der Zauberflöte gesungen, das hat mich geprägt. Bis heute bekomme ich Herzklopfen, wenn die Posaunen im Finale erklingen. Denn unmittelbar nach den Posaunen war, als einer der drei Knaben, mein Einsatz. Seit diesen Auftritten ist Mozart Teil meines Lebens, ist er meine Welt… Das betrifft übrigens auch Wien. Ich bin Mitte September 1968 hier angekommen, und die allererste Aufführung, die ich an der Wiener Staatsoper erlebte, war rund zwei Wochen später Così fan tutte. Josef Krips hat dirigiert, und ich durfte den Wiener Klang kennenlernen – und der ist wirklich einmalig. Mit Mozart fing es auch hier an.

Führen Sie eigentlich mitunter im Kopf Gespräche mit Mozart? Befragen Sie ihn zu Werken? Oder fragen Sie ihn, wie er eine Vorstellung empfunden hat?

Nein, das eigentlich nicht. Aber ich bin ihm sehr nahe, ich kenne sein Leben sehr genau. Ich weiß um Mozarts Verbindung zu seinem Vater, kenne die Briefe, die ganze Biografie, die Aufführungsgeschichte von seinen Werken. Und wenn Sie mich jetzt fragten, was ich von ihm oder in Bezug auf ihn gerne wüsste: eine Menge! Vor allem: Was er noch komponiert hätte, wenn er nicht so früh gestorben wäre. Denn: Wäre er nach Don Giovanni gestorben, dann hätten alle gemeint, dass mit diesem Werk der absolute Gipfel erreicht sei. Das könne man nicht mehr überbieten! Und was machte Mozart? Er schrieb die Zauberflöte, ein Werk in einem ganz neuen Stil. Ich denke, dass er in seinen letzten Monaten einen ganz neuen Weg eingeschlagen hat, den er aber nicht zu Ende gegangen ist.

Etliche Zuschauerinnen und Zuschauer berichten, dass sie nicht in jeder Lebenssituation jeden Komponisten hören möchten. So ist zum Beispiel Wagner für manche mitunter anstrengend. Aber Mozart scheint hier die Ausnahme zu sein. Ist es bei Ihnen auch so, dass Sie Mozart immer hören und dirigieren können?

Ich kann mir keine Situation vorstellen, in der ich Mozart nicht hören könnte. Dass Wagner anstrengend ist, as kommt vor. Es gibt Momente, da möchte ich eigentlich nur Bach hören – aber Mozart geht dann eigentlich auch. Nur ein Stück von ihm mag ich nicht… seine Bearbeitung vom Händel’schen Messias. Ich habe das zweimal dirigiert, werde aber mit dem Werk nicht warm. Doch es ist wirklich sein einziges Stück, bei dem es mir so geht!

Rainer Maria Rilke beschreibt in einem Gedicht eine Kunsterfahrung, die so intensiv ist, dass er daraufhin sein Leben ändern muss. Sind Sie schon einer solch großen und bewegenden Mozart-Stelle begegnet, die von Ihnen fordert, ein neuer Mensch zu werden?

Ein neuer Mensch ist ein vielleicht zu großes Wort. Aber wenn ich Probleme habe, denke ich an eine Mozart-Stelle und fühle mich dadurch wohler. Manchmal tröstet mich das.

Und welche Stelle ist das?

Wenn ich eine nenne, bin ich den anderen Stellen gegenüber ungerecht. Aber… »Bisogna aver coraggio«, diese Passage aus Don Giovanni. Aber das sage ich gerade nur so aus dem Bauch heraus, ohne Garantie. Wenn Sie mich in zehn Minuten nochmals fragen, nenne ich Ihnen vielleicht eine ganz andere Stelle. Das hat eben mit dem immensen Reichtum Mozarts zu tun.

Gibt es Momente, in denen Sie das Gefühl haben, Mozart ganz verstanden zu haben? Vielleicht nicht für immer, aber zumindest punktuell?

Für Augenblicke denke ich, dass etwas so oder so sein muss. Aber es ist keine ewige Wahrheit, vielleicht gilt die Erkenntnis schon am nächsten Tag nicht mehr. Manche sagen, dass es Lebensabschnittspartner gibt; ich habe Lebensabschnittswahrheiten.

Immer wieder erzählen Sängerinnen und Sänger, dass Mozart der Stimme besonders wohltut.

Naja, Mozart hat von der Gesangsstimme natürlich viel verstanden. So schrieb er Partien, die gut »in der Stimme liegen«. Aber, und das darf man nie vergessen, er schrieb für damals lebende, ganz bestimmte Sängerinnen und Sänger, die er im Ohr hatte. Daher können manche Partien für heutige Darsteller schwierig sein, weil Mozart eben auf die Besonderheiten einer bestimmten Person einging. Wenn man also Besetzungen sucht, ist es, als ob man zu einem bestehenden maßgeschneiderten Anzug eine Person suchte, die genau hineinpasst. Ein Beispiel: Osmin in der Entführung aus dem Serail liegt deshalb so tief, weil der Uraufführungssänger diese Tiefe gehabt hat. Oder Mitridate: Der Sänger der Uraufführung soll keine gute Mittellage gehabt haben, daher hat Mozart eine Partie geschrieben, die eher im oberen und unteren Bereich viel fordert. Heute muss man demnach einen Sänger finden, der genau das beherrscht.

Sie verbringen Ihr ganzes Leben mit Musik. Hat Sie das als Mensch verändert? Sind Sie durch die Musik vielleicht sogar ein besserer Mensch geworden?

Das weiß ich nicht. Ich finde jedenfalls, dass Musik eine interessantere und intensivere Kunstgattung ist als alle anderen. Ich hätte mich in meinem Leben auch mit Literatur oder Malerei beschäftigen können. Aber Musik kann für mich mehr, sie vermag mehr auszudrücken, als das reine Wort es kann. Musik sagt, was mit Worten nicht zu beschreiben ist. Ich jedenfalls betrete durch sie eine andere Dimension und kann mein Innerstes besser offenbaren als in jeder anderen Sprache. Ich würde also sagen, dass die Musik aus mir zumindest einen anderen Menschen gemacht hat!